Erlosung
angekündigt. »Verspätung!«, rief Ella erleichtert.
Sie liefen durch die Eingangshalle zum Ankunftsgate. Ella suchte einen Platz am Aussichtsfenster, von dem aus sie die Start- und Landebahnen im Auge behalten konnten. Bis auf die Scheinwerfer der Düsenjets und die Rollfeldbeleuchtung lag die Piste in nächtlicher Dunkelheit. In der Fensterscheibe spiegelte sich die nur schwach belebte Halle. Im Licht der hoch oben an der Decke angebrachten Lampen wirkten alle ein wenig kränklich, die wartenden Fluggäste, das hin und her eilende Flughafenpersonal, die Verkäuferinnen im Duty-Free-Shop die mit verkniffenen Mienen herumstehenden Flics, die ankommenden Passagiere und die Freunde und Verwandten, die sie abholen wollten.
Eine harte weibliche Stimme verbreitete über die knisternde Lautsprecheranlage Informationen, die Ella nicht verstand, weder auf Französisch noch auf Englisch. Sie versuchte, etwas herauszuhören, einen Namen, einen Ort.
»Frage«, sagte Annika. »Was machen wir, wenn wir Lazare
nicht erkennen, trotz seiner Beschreibung? Ihn über Lautsprecher ausrufen lassen? Passenger Lazare, arrived with Iberia Flight 123 from Madrid, please come to the information desk immediately. Passenger Raymond Lazare from Madrid â¦Â«
» Quite funny« , sagte Ella. »Er hat gesagt, dass wir uns in so einem Fall am Eingang der Ambulanz treffen, da wäre nie etwas los.« Immer wieder schaute sie auf ihre Armbanduhr, von dort zur Flughafenuhr an der Decke und hinaus aufs Rollfeld, in den nachtblauen Himmel über dem erleuchteten Tower. Ganz weit oben glaubte sie, vereinzelte Sterne erkennen zu können. Annika ging mit ihrem Gesicht so dicht an die Scheibe, als wäre sie ein Schminkspiegel. »Sieh uns an«, sagte sie. »Ein ganzer Tag im Hotel mit Baden, Haarewaschen und Schminken verbracht, und wir sehen immer noch aus wie Thelma und Louise kurz vor ihrem Absprung in den Grand Canyon.«
»Es war kein sehr gutes Hotel«, sagte Ella.
Dann endlich sank weit hinten über der Ebene eine zweistrahlige Boeing 737 aus dem Abendhimmel und schwebte auf die beleuchtete Landebahn zu. »Ist sie das?«, fragte Annika. »Ist das der Flug aus Madrid?«
»Müsste er sein«, sagte Ella. Sie ging an der Glasfront entlang bis zum Ende der Halle, wo sie die Passagiere ankommen sehen konnte, wenn sie die Maschine verlieÃen. Roter Wollschal, rote Baseballkappe, beiger Anzug.
Eine weitere Schar Pilger marschierte durch die Halle wie die Nachhut einer geschlagenen Armee. Ein junger Mann in Jeans und einer braunen Lederjacke kreuzte ihren Weg, ohne sie zu beachten. Sein Gang ähnelte dem eines Soldaten auf dem Kasernenhof. Aber für einen Soldaten hatte er zu lange Haare, schwarz und lang wie ein Indianer auf einem Gemälde mit einem Motiv aus dem Wilden Westen. Seine Haut war dunkel, glänzend.
Seine Augen flogen unruhig hierhin und dorthin, als hörte er von überallher die Schritte unsichtbarer Feinde â Jägeraugen, grün
wie Flaschenglas und von fiebriger, leuchtender Intensität. Aber in seinem maskenhaft starren Gesicht lag keinerlei Gefühl, weder Angst noch Zorn, nichts Lebendiges. Ein Mensch, der dazu da war, andere Menschen zu töten, nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Befehl, auf ein Kopfnicken, ein Fingerschnippen.
»Hast du den gerade gesehen?«, fragte Annika. »Ich habe auf einmal so ein komisches Gefühl.« Sie blinzelte. »Riechst du das auch? Diesen süÃen Bohnerwachsgeruch?« Es kam ihr vor, als hätte das Licht sich verändert. Es war heller da, wo sie stand, hell und fast flirrend, dafür sammelte sich in den Ecken der Halle die Dunkelheit.
Das Rollfeld glänzte silbrig, als die Scheinwerferkegel des landenden Jets der Iberia auf den Beton fielen. Der Lärm der Düsen legte sich Ella wie eine Klammer um die Brust. Die Lampen zu beiden Seiten der Landebahn verblassten vor der Boeing, aber da, wo die mächtigen Gummireifen des Fahrwerks die Piste berührten, leuchtete der aufgewirbelte Staub. Die Bremsklappen kippten nach unten. Der Umkehrschub der Turbinen lieà die Luft flimmern. Das Bodenpersonal klettert auf die Wartungsfahrzeuge; ein Schlepper zog die Gangway zur Parkposition des Flugzeugs.
Bohnerwachs mit Erdbeeraroma, dachte Annika, aber es war gar kein Geruch, es lag auf ihrer Zunge; ein Geschmack, viel zu süà für Erdbeeren. Der rosarote Nebel breitete
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