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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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Seiten der Straße, und sie ging erst los, als sie sicher war, dass niemand auf sie wartete.
    Der Innenhofwar klein und lag im Schatten eines alten, dicht belaubten Ahornbaums. Die Luft schien verwischt, als tanze die Stille flimmernd zwischen den erhitzten Backsteinmauern der angrenzenden Häuser. Die meisten Fenster standen offen. Auf einigen der Eisenbalkone hing Wäsche zum Trocknen. Satellitenantennen reckten ihre Kelche dem All entgegen. An den roten Fassaden rankte sich halb vertrockneter Lorbeer zu den rostigen Dachrinnen empor, über denen ein kleines Stück Himmel zu sehen war.
    Es war ein Gewitterhimmel, pflaumengrau, von dem das Nachmittagslicht wie eine schwach körnige Strahlung auszugehen schien. Hin und wieder loderte ein lautloses Wetterleuchten hinten den Wolken. Der Wind roch frisch, nach fernem Regen und nur ganz schwach nach Feuerstein.
    Ella entdeckte eine Aluminiumleiter am Fuß des mit den Planen verkleideten Metallgerüstes. Die Leiter führte zu den Holzplanken in Höhe des ersten Stocks, und von dort führten
weitere Leitern zu den nächsten Stockwerken. Die Luft hinter den Planen war heiß und stickig; die Augustsonne hatte den ganzen Tag auf den dünnen Kunststoff gebrannt. Alles war in einen blauen Schimmer getaucht. Die Schrauben an den Eisendübeln im Mauerwerk des Hauses knirschten leise, als Ella das Gerüst bestieg, und die Holzplanken bebten unter ihren Schritten.
    Auf den Brettern standen Farbtiegel und Plastikeimer mit trockenem Mörtel. In Höhe des dritten Stocks lag eine vergessene Bohrmaschine, deren Stromkabel in einem Fensterspalt verschwand. Neben den Leitern führte ein Schuttschlauch wie ein silberner Schlangenleib vom Dach in den Hof.
    Als Ella das Penthouse erreichte, lief ihr der Schweiß den Rücken hinunter, wo er kalt wurde, bevor er sich im Hosenbund sammelte. Die Fenster der Penthousewohnung waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Ella drückte gegen die Scheiben, vergeblich. Sie ging zu einem farbverklebten Spachtel, der ein paar Schritte weiter auf der Holzplanke lag, und als sie sich bückte, entdeckte sie das getrocknete Blut. Erst war es nur ein Fleck – klein, fuchsrot –, dann noch einer, etwas größer, und endlich fast ein halber Schuhabdruck. Es gab mehrere winzige Spritzer auf der Plane und eine Schleifspur an der Mauer. Genau an dieser Stelle hatte sich die Plane aus ihrer Halterung gelöst und flatterte am Gerüst hin und her.
    Ella hob den Spachtel auf, ging zum Fenster zurück und schlug mit dem Spachtelgriff die Scheibe ein. Das Klirren des splitternden Glases schien im ganzen Hof widerzuhallen. Sie ließ den Spachtel fallen, schob die rechte Hand vorsichtig durch das dreieckige Loch und zog die hochgekippte Fensterklinke in ihre Richtung. Ihr Atem ging schnell. Sie lauschte, versuchte, ruhiger zu atmen, aber das Flattern der Plastikplanen im Wind übertönte jedes andere Geräusch.
    Sie drückte das Fenster ganz auf, stieg von der Holzplanke
über das Fensterbrett und kletterte in die Wohnung. Lauschte wieder. Es war dunkel und heiß so dicht unter dem Dach. Trotzdem fröstelte sie. Ein muffiger Geruch hing in der stickigen Luft. Die schweren Samtvorhänge waren noch immer halb zugezogen, sodass der große Wohnraum in Zwielicht versank.
    Eine Bewegung am Boden ließ Ella zusammenzucken – kein Geräusch, nur ein Schatten, der seine Form änderte. Dann sah sie genauer hin und bemerkte eine abgemagerte Katze, die über einem Fischgerippe kauerte und sie reglos mit großen gelben Augen anstarrte. Nur der Schwanz wischte hin und her. Wo kommst du denn her? Haben sie dich hier eingeschlossen? Ella tat einen Schritt auf sie zu. Die Katze raste entsetzt davon, und plötzlich hatte Ella das Gefühl, dass die Angst der Katze ihre eigene widerspiegelte.
    Denn jetzt nahm sie das ganze Bild wahr: die Scherben des zerborstenen Aquariums, die kleinen, toten Fische, umgeben von schillernden Schuppen und glitzernden Glassplittern, das alles war nicht mehr da. Es gab auch keine Blutlachen mehr auf dem Boden und keine Spritzer an den Wänden. Nicht einmal das getrocknete Wasser hatte Flecken und Ränder auf den frisch gebohnerten Ebenholzbohlen hinterlassen.
    Jetzt roch Ella Bohnerwachs und frische Farbe. Kein Blut mehr, keine Kampfspuren, die Wände frisch gestrichen. Nur das Fischskelett, dünn und weißlich wie Glasnudeln, das die hungrige Katze

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