Erlosung
demselben Finger blitzschnell an der Kehle vorbei wie mit einer Messerklinge.
Der kleine Körper in dem anderen Bett regte sich, ein helles Seufzen erklang.
»Und weiter?«, fragte Ella.
»Er hat die Frau aus dem Fahrstuhl geschoben, und drauÃen hat er den Kittel ausgezogen und seine Mütze und das grüne Tuch, das er vor dem Mund hatte, auch â «
»Konntest du sein Gesicht erkennen?«
»Nein, er stand ja mit dem Rücken zu mir.« Jonas kniff das gesunde Auge zusammen, als könnte er so besser in die Vergangenheit schauen. »Es gab auch nur ganz wenig Licht da unten â wie in einer Drachenhöhle â, und die Tür ist gleich wieder zugegangen. Aber der Mann hat keinen Knopf gedrückt, deswegen ist der Fahrstuhl nicht gleich wieder losgefahren. Ich war neugierig, was er mit der Frau macht und hab noch mal auf Keller gedrückt, und da hab ich gesehen, wie noch zwei andere Männer gekommen sind, normale Männer, keine Ãrzte, und zusammen haben sie die Frau ganz schnell weggebracht, so einen dunklen Gang hinunter, aber eins war komisch â¦Â«
Jonas hielt die Luft an, und plötzlich schoss sein Oberkörper aus den Kissen hoch, das Gesicht eine kleine verzerrte Maske der Angst. »Auf einmal hat die Frau sich aufgerichtet und einen von den Männern angestarrt, als würde sie ihn von woandersher kennen. Ihre Augen in dem blutigen Gesicht waren riesig, und
sie sah aus, als würde sie gleich anfangen zu schreien. Aber der eine der Männer, der, den sie wiedererkannte, hat sie einfach zurückgedrückt auf ihre Trage, mit der Hand auf dem Gesicht. Die quetschte ihr Gesicht zusammen wie ein Seestern, wie ein böser, groÃer Seestern, genauso, und dann lag sie wieder still.«
Ella stellte sich das Entsetzen der jungen Frau vor, als sie kurz zu sich kam und die Augen öffnete und die Männer über sich sah, schwarze Silhouetten, die sie durch einen von flackernden Neonleisten beleuchteten Kellergang schoben, und dann beugte sich einer der Männer über sie, und da erkannte sie ihn, er war wieder da, der Mann mit dem Messer und den Zangen. Und eine Hand, die ihr ins Gesicht fasste und sie zurückdrückte, auf die Trage, in die Finsternis in ihrem Kopf.
»Was haben Sie denn?«, fragte Jonas besorgt.
»Ich habe nur gerade gedacht â¦Â«, sagte Ella. »Ich habe mich gefragt, ob du das wohl auch der Polizei erzählen würdest, wenn sie dich danach fragt.«
»Klar«, sagte Jonas. »Nur heute nicht. Wissen Sie, nachher kommt jemand, der mir wieder den Kopf rasiert, und dann holen Sie das Alien raus. Es kann sein, dass ich danach eine Zeit lang schlafen muss.« Er überlegte. »Meinen Sie, die Frau ist entführt worden?«
»Am besten vergisst du die Frau jetzt erst mal wieder«, sagte Ella, und um ihm dabei zu helfen, fragte sie: »WeiÃt du schon, was du mal werden willst?«
»Erfinder«, sagte Jonas und rieb sich das schielende Auge. »Ein berühmter Erfinder von Videospielen, mit Monstern und Drachen und Piraten.«
Er schwieg einen Moment, dann sank er in sein Kissen zurück. Er sah Ella mit dem gesunden Auge an, bevor er es plötzlich ebenso zuhielt wie das andere. Seine Lippen bewegten sich, ohne dass er einen Laut von sich gab.
»Jonas? Was hast du?«
»Ich hab doch Angst«, gestand der Junge leise. »Ich bin â ich bin nicht sehr tapfer.«
»Ich bin auch nicht so tapfer«, sagte Ella. »Manchmal muss man etwas einfach tun, ob man will oder nicht. Aber wie wärâs, wenn wir ein Geschäft machen? Du hast keine Angst mehr, und ich verspreche dir, dass du wieder ganz gesund wirst. Immerhin, überleg dir mal â wie berühmt kann wohl ein Videogame-Erfinder werden, der alles doppelt sieht?«
Der Junge spreizte die Finger der Hand über dem gesunden Auge und sah sie wieder an, sagte aber nichts.
»Abgemacht, Jonas?«
Jetzt lieà Jonas beide Hände fallen, verdrehte auch das gesunde Auge zu einem frechen Schielen und grinste. »Abgemacht! «
12
Die Plastikplanen knatterten im Wind wie blaue Segel, und nachdem sie das Haus lange genug beobachtet hatte, betrat sie den Hinterhof durch einen dunklen Torweg, in dem Müllcontainer mit Bauschutt und eine Zementmischmaschine die Garagenzufahrt blockierten. Sie hatte nicht nur das Haus beobachtet, sondern auch die davor abgestellten Autos und die Passanten auf beiden
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