Erlosung
wo sie saÃ, merkte sie, dass ihr schlecht war vor Hunger. Der Raum schien unter ihr wegzukippen, als hätte sie zu viel getrunken.
AuÃer ihr gab es noch vier weitere Gäste. An einem Tisch direkt unter dem Fernseher saÃen zwei junge Männer in weiÃen Hemden und eleganten schwarzen Anzügen, deren Jacketts sie neben sich auf die Bänke gelegt hatten. Sie trugen Seidenkrawattten, teure Uhren und Designerbrillen. Ihre Handys lagen griffbereit auf der Tischplatte. Sie stippten geschälte Garnelen in ein halbes Dutzend weiÃer Saucenschälchen vor ihren Plätzen, knabberten Reiswaffeln und wischten sich die fettigen Finger an Papierservietten ab, die sie achtlos auf den schwarzen Marmorboden fallen lieÃen.
Am entgegengesetzten Ende des schlauchförmigen Raums kauerte ein blasses Mädchen in Parka und Jeans, trank eine Cola
light und las in einem Taschenbuch, während ihr Kopf im Rhythmus der Musik aus ihren iPod-Kopfhörern wippte.
An einem Tisch genau in der Mitte saà â mit dem Rücken zu Ella â eine Blondine in einem Businesskostüm, dessen Rock aus beiger Rohseide unter der Bank lange schlanke Beine sehen lieÃ. Die FüÃe steckten zur Hälfte in dottergelben High Heels, die leicht geröteten Fersen schauten unter grauen Riemchen hervor. Die Frau war gerade mit dem Essen fertig, tupfte sich mit der Serviette schnell den Mund ab und kontrollierte Lippenstift und Zähne in einem rechteckigen Taschenspiegel, der nur das gefletschte Gebiss reflektierte.
Hinter einer Durchreiche kippte ein schwitzender asiatischer Koch Nudeln aus einem Sieb in eine Kupferpfanne mit zischendem Ãl und schien dabei Verwünschungen auszustoÃen. Eine Kellnerin in einem kirschblütenfarbenen Sarong zauberte ein seidenes Lächeln auf ihr blasses, stark geschminktes Gesicht â künstlich und fein, wie auf einen Wandteppich gestickt â und trat an Ellas Tisch, um zwei Speisekarten vor sie hinzulegen. »Schon etwas zu trinken für Sie?«, fragte sie mit einer hellen Stimme, die Mühe hatte, sich gegen den rappenden Ghettokitsch im Fernsehen durchzusetzen.
»Einen Eistee«, sagte Ella.
Die Kellnerin mit dem gestickten Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte, nickte und glitt zurück zur Theke. Aus ihrem schwarzen, zu einem Knoten hochgesteckten Haar ragten zwei Holzstöckchen, die Ella an Mikadostäbchen erinnerten. Dany kehrte zurück an den Tisch, blieb neben Ella stehen und sagte: »Hinter den Toiletten ist eine Tür, die auf einen Hof führt. Kommen Sie.«
»Können wir nicht einen Moment hierbleiben?«, fragte Ella. »Ich habe Hunger und Durst, und ich müsste mir auch mal die Hände waschen.«
»Dann gehen Sie jetzt«, sagte Dany, »und wenn Sie fertig
sind, warten Sie drauÃen auf mich. Ich lasse uns etwas einpacken und komme nach.« Er ging zum Tresen, gerade als die Kellnerin den Tee brachte, und Ella trank so schnell sie konnte, bevor sie den Waschraum aufsuchte. Es lag eine merkwürdige Erleichterung darin, zu tun, was jemand anderer ihr sagte, fast als legte sie ihr Schicksal in fähigere Hände als ihre eigenen.
Die Toilette war sauber, in der Luft hing Räucherstäbchenduft. Ella sah in den Spiegel. Die Frau, die zurückblickte, wirkte erschöpft und verstört, ein blasses Gesicht vor dem dunklen Hintergrund der marmorierten Kacheln, groÃäugig, ungeschminkt. Sie kämmte sich mit den Fingern und erkannte sich immer noch nicht.
Als sie den Waschraum verlieÃ, entdeckte sie rechter Hand in dem schlecht beleuchteten Gang die Tür des Notausgangs. Sie öffnete sie und fand sich in einem Hinterhof, der nur von einer vergitterten Lampe über den beiden Müllcontainern erhellt wurde. Dany lehnte an einem der Container, in der Hand einen offenen Karton mit Dim Sum. Er spieÃte eine der frittierten Teigtaschen darin auf eine Plastikgabel und streckte sie ihr entgegen. »Achtung, heiÃ.«
Sie nahm die Gabel, biss in die Teigtasche und verbrannte sich Zunge und Gaumen und auch noch die Speiseröhre, aber dann war es, als entzündete sich das Essen in ihr, erst im Magen, dann im Kopf, im ganzen Körper, wie eine Explosion. Dany beobachtete, wie sie die nächste Kugel verschlang und sagte: »Sie sehen ihr ähnlich. Sie essen sogar wie sie.«
»Ihre Schwester? Mado?«, fragte Ella mit vollem Mund.
»Ja.« Er sah sie weiter an, als
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