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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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war der Tag vor Heiligabend, und sie war allein zum Rodeln gegangen auf dem Hügel hinter dem Dorf, den alle den Drachenkamm nannten. Der verharschte Schnee knirschte unter ihren Schuhen. Die frische, klare Luft brannte bei jedem Atemzug in der Brust, und anfangs war ihr kalt gewesen, aber je länger sie ging, desto weniger fror sie. Sie hatte die Schnur des Schlittens um die Hand gewickelt. Sie spürte sein Gewicht, und jedes Mal, wenn seine Kufen über einen Ast oder einen Stein im Schnee schleiften, musste sie etwas stärker ziehen.
    Als sie den Rist des Hügels erreicht hatte, begannen überall um sie herum Eis und Schnee zu glitzern, und schließlich verschwand der Nebel über der Ebene, und in diesem Moment stellte Ella fest, dass sie nicht allein war. Einige Meter unter ihr am Hang kauerte ein Wildkaninchen zwischen den Baumwurzeln. Es sah sich vorsichtig um und wackelte dabei mit den Löffeln. Ella lächelte. Vor Vergnügen spreizte sie die freie Hand in der Tasche des dicken Dufflecoats. Das Kaninchen erstarrte, streckte eine zuckende Nase in ihre Richtung und hoppelte schließlich rasch den Hang hinunter.
    Der Habicht näherte sich lautlos im Gleitflug. Erst war er nur ein schwarzer Punkt, ein Fleck vor der diesigen Sonne. Aber er wurde schnell größer, und Ella schirmte die Augen mit der Hand ab, um ihn besser beobachten zu können. Plötzlich
schien er in der Luft stehen zu bleiben, bevor er mit ausgebreiteten Schwingen einen Kreis nach dem anderen zog.
    Ella blickte den Hang hinunter und sah, wie das kleine Kaninchen am Waldrand hin und her rannte. Der Habicht kreiste genau über ihm. Obwohl sie noch klein war, wusste sie, was das bedeutete. Er wird es töten, dachte sie entsetzt. Ihr Herz schlug schmerzhaft schnell. Sie ließ die Hand sinken und wollte sich abwenden, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. Wie angewurzelt blieb sie stehen.
    Ich muss das Kaninchen warnen .
    Die Stille, die über der Landschaft lag, schien auf einmal drückend wie die Luft vor einem Gewitter. Fast greifbar hing sie zwischen den Bäumen. Dann stieß der Habicht herab. Pfeilgerade stürzte er auf das Kaninchen zu, das jäh zu rennen begann. Lauf, flehte Ella, lauf, bitte, lauf! Der gleißende Schnee gab unter den Läufen des Kaninchens nach, es fing an, Haken zu schlagen, rannte erst nach rechts, dann nach links. Selbst als die Schwingen des Habichts es schon in ihren Schatten hüllten, rannte es noch.
    Ella bemerkte, dass sie sich in den Knöchel des Zeigefingers gebissen hatte. Sie fühlte keinen Schmerz, denn ihre Hände waren taub vor Kälte. Erst als sie die Abdrücke ihrer Zähne bemerkte, spürte sie ein schwaches Pochen im Fleisch. Im selben Augenblick hatte der Habicht das Kaninchen erreicht, und die Stille barst unter dem Schrei, der sich die ganze Zeit in Ella angestaut hatte.
    Das Kaninchen versuchte noch immer zu fliehen. Es schlug einen letzten scharfen Haken, um sein Leben zu retten, aber der Habicht holte es mit zwei knappen Flügelschlägen ein. Schnee stob auf, ein weißes Gleißen, die Krallen packten zu, der Kopf mit dem tödlichen Schnabel hackte herab.
    In Panik blickte Ella sich um, suchte den Waldboden zu ihren Füßen nach einem Stein ab. Da – nein, das war ein Tannenzapfen.
Aber da! Sie bückte sich. Nein, das war eine Wurzel. Verzweifelt stieß sie die Stiefelspitzen in den Schnee, bis sie gegen einen Stein prallte. Hastig scharrte sie ihn frei und wollte ihn aufheben, aber er war festgefroren. Immer wieder rutschten ihre starren Finger ab, und die ganze Zeit hörte sie das Flügelschlagen, das bedeutete, dass der Habicht sich noch nicht mit seiner Beute in die Luft erhoben hatte, dass sie noch lebte.
    Etwas Warmes tropfte auf Ellas wild scharrende Hände. Sie weinte. Sie kauerte über diesem verdammten Stein, der sich nicht aus dem Boden lösen wollte und der wahrscheinlich viel zu schwer für sie war, und weinte. Das war alles, mehr tat sie nicht, mehr war sie nicht, eine Heulsuse!
    Endlich sprang sie auf und lief schreiend den Hang hinunter, um den Habicht zu erschrecken, damit er von dem Kaninchen abließ. Ihre Stiefel waren abgetragen, und der Schnee pappte an den Sohlen fest, und auf einmal glitt sie aus und stürzte. Auf dem Bauch rutschte sie ein Stück die steile Steigung hinunter. Ihre Stirn schlug gegen etwas Hartes. Direkt vor ihren Augen ragte ein knüppeldicker

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