Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
Vom Netzwerk:
und eine Hand hielt sich am Fensterrahmen fest, während ein Fuß in einem Schuh aus schwarzem Leder festen Halt auf dem Asphalt suchte. Nicht ganz ohne Mühe stieg ein schlanker, älterer Mann aus dem Wagen. Er trug einen silbergrauen Glencheckanzug und einen schwarzen Hut, dazu ein blassrosa Hemd mit weißem Button-down-Kragen und eine fliederfarbene Krawatte. Die Quasten seiner Slipper schimmerten, als wären sie einzeln mit einer Zahnbürste auf Hochglanz poliert worden.
    Der Mann sah sich suchend um. Die Straße lag noch immer im Schatten. Ella trat aus der Toreinfahrt hervor, die zum Hinterhof eines Supermarktes gehörte. Sie hatte sich ein schwarzes Kopftuch umgebunden und trug eine Sonnenbrille, genau wie angekündigt. Sie wartete, bis der Mann in ihre Richtung blickte, dann winkte sie ihm.
    Der Mann überquerte die Fahrbahn. Er bewegte sich überraschend flink, schaute weder nach rechts noch nach links, auch nicht zu der Ecke, hinter der das Scheppern der Tonnen und das Dröhnen des Mülltransporters immer lauter wurde. Im Gehen paddelten seine Hände neben den Oberschenkeln durch die Luft wie Entenflossen durchs Wasser.
    Als er nah genug war, bemerkte Ella die schimmernden Manschettenknöpfe, fast zu extravagant für jemanden, der von Berufs wegen im Ruch gediegener Seriosität stehen musste. Aus der Brusttasche des Jacketts lugte ein gefälteltes Einstecktuch. Die Augen des Mannes waren hinter einer Sonnenbrille verborgen, aber Ella konnte durch die schildpattgefassten Gläser sehen,
dass die Pupillen geweitet waren wie die eines nachtaktiven Tiers bei Mondfinsternis.
    Er stirbt gleich vor Angst, dachte sie. »Doktor Freyermuth?«
    Er blieb abrupt stehen und musterte sie, ohne zu antworten. Er hatte eine Gesicht, das alt war, ohne gealtert zu wirken, als hätte man ihn nach einem friedlichen Tod in jungen Jahren einbalsamiert wie einen ägyptischen Prinzen: blasse, gestraffte Haut, die Farbe von weißer Asche, und wachsame Augen, die sehen konnten, aber nichts preisgaben.
    Er öffnete den Mund, sprach aber erst eine Sekunde später, wie eine Puppe, die dazu eine mechanische Stimme in ihrem Inneren in Gang setzen musste. »Doktor Bach?« Seine nervös zuckenden Lippen waren trocken, die Zähne teegelb.
    Â»Ja.«
    Freyermuths Blick flog an Ella vorbei. »Sind Sie allein?«
    Â»Ja. Ist Ihnen jemand gefolgt?«
    Â»Ich glaube nicht.« Freyermuth sah sich um, als wäre er nicht ganz sicher. Er presste seinen Hut mit der linken Hand gegen den Kopf, obwohl der Wind sich gelegt hatte. »Ich habe nicht viel Zeit. Lassen Sie uns schnell zur Sache kommen.«
    Das Scheppern und Dröhnen der Müllabfuhr war jetzt schon ganz nah, und in der Mündung einer Seitengasse tauchte ein Mann in einer orangen Latzhose auf, der anfing, die Tonnen aus den Toreinfahrten auf die Straße zu rollen.
    Â»Sind Sie im Besitz der DVD, von der wir gesprochen haben? «, fragte Ella.
    Freyermuth trat einen Schritt auf sie zu, bis seine Hutkrempe sie fast berührte. »Ich habe Sie nicht verstanden. Was haben Sie gesagt?«
    Â»Ob Sie die DVD haben, die ich am Telefon erwähnt habe! Hat Frau Schneider sie Ihnen geschickt?«
    Â»Ja.«
    Â»Wo ist sie? Im Wagen?«

    Â»Nein.«
    Â»Wo ist sie dann? Ich dachte, Sie bringen sie mit.«
    Â»Ich habe es mir anders überlegt.« Freyermuth schaute zu den Müllmännern hinüber.
    Mit orange blitzenden Lampen auf dem Dach des Führerhauses und dröhnendem Motor bog der kastenförmige Abfalltransporter in die Straße vor der Moschee. Der Lärm wirkte plötzlich doppelt so laut, als hätte der Wind bisher wie ein Filter gewirkt: Die Tonnen schepperten, die Hydraulikkolben im Heck des Lasters knirschten, die Häckselwalze fräste sich durch Blech, Holz und Pappe.
    Â»Warum?«, schrie Ella dagegen an. »Warum haben Sie es sich anders überlegt?«
    Der Anwalt betrachtete sie erstaunt. Er blinzelte. »Es ist zu gefährlich.« Er schrie jetzt auch. »Zu gefährlich. Ich habe sie mir angesehen. Ich habe mir die DVD angesehen. In den falschen Händen kann sie …« Er unterbrach sich. » Es ist zu gefährlich! «
    Â»Ich dachte, Sie wären gekommen, um mir zu helfen?!«
    Â»Ich kann Ihnen nicht helfen.«
    Â»Warum nicht?«
    Â»Ich glaube Ihnen nicht. Es tut mir leid. Ich glaube Ihnen nicht.«
    Ella riss sich das Kopftuch herunter.

Weitere Kostenlose Bücher