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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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Ast aus dem Schnee.
    Der Habicht hatte das Kaninchen auf den Rücken gedreht und die Krallen in den Bauch seiner Beute geschlagen. Das hellbraune Fell war blutgefärbt. Ella sah die Läufe des Kaninchens zucken und die schlagenden Flügel des Habichts, und dann sah sie seinen Kopf, hochgereckt und stolz, mit rot geflecktem Schnabel. In ihren Ohren klang sein wildes, abgehacktes Krächzen wie höhnisches Triumphgeschrei.
    Halb benommen, versuchte sie aufzustehen. Ihr Gesicht war mit nassem Schnee verklebt, und ihr linker Arm steckte in einer tiefen Wächte. Mit der freien Hand griff sie nach dem Ast, doch er war festgefroren. Sie riss und zerrte, und gleichzeitig versuchte sie aufzustehen, denn noch immer hörte sie das Flügelschlagen und das Krächzen, und sie wollte nicht, dass der Habicht das Kaninchen tötete. Ich muss ihm helfen, es darf nicht
sterben. Endlich schaffte sie es, ihren Arm zu befreien, und als Nächstes gelang es ihr, den Knüppel dicht über dem vereisten Boden abzubrechen, und dann war sie auf den Knien und schließlich auf den Füßen.
    Schluchzend stolperte sie den Hang hinunter. Da erhob sich der Raubvogel mit einem letzten Krächzen in die Luft und trug seine Beute davon. So schnell, wie er aufgetaucht war, verschwand er wieder. Er stieg höher und höher, wurde kleiner, wurde wieder zu einem schwarzen Punkt am Himmel, der jetzt hell und strahlend blau war.
    Ellas Faust umklammerte den Ast. Wo das Kaninchen mit dem Habicht gekämpft hatte, war der Schnee blutig, lauter rote Flecken und Punkte, und dazwischen lagen ein paar graubraune Federn und Fellfetzen. Nach und nach drangen Geräusche an ihr Ohr: das Krächzen von Krähen in den Ästen über ihrem Kopf; Wind, der durch die Bäume strich; ihr eigenes Keuchen. Sie ließ den Ast fallen, und sie wusste noch, was sie damals gedacht hatte: Wie kann etwas so Schreckliches passieren, und das Leben geht einfach weiter? Wie kann davor und danach und drum herum alles so schön und friedlich sein, und gleichzeitig muss in der Mitte jemand sterben, und niemand hilft ihm?
    Wenn ich groß bin, werde ich das ändern. Ich werde das einfach nicht mehr zulassen.
    Â»Das klingt wie das erste Kapitel in einer Biografie von Jeanne d’Arc«, sagte Dany.
    Â»Ich weiß nicht, wie das klingt«, sagte Ella. »Aber auf alle Fälle haue ich nicht ab, wenn irgendwo jemand liegt, der sich nicht mehr wehren kann.«
    Â»Ich habe Jeanne d’Arc immer gemocht«, sagte Dany.

21
    Der schwarze Mercedes der S-Klasse bog um die Ecke eines ehemaligen Möbelgroßhandels und rollte langsam die Straße zur Moschee hinunter. Die Spitze des Minaretts leuchtete rosa und golden vor dem blassblauen Himmel, der schnell hell wurde. Der Mercedes hielt hinter einem verbeulten Müllcontainer. Der leise rauschende Motor erstarb. Der Fahrer schaltete die Scheinwerfer aus, blieb aber im Wagen sitzen.
    Ella stand zwanzig Meter entfernt in einer zurückgesetzten Toreinfahrt und beobachtete die Limousine auf der anderen Straßenseite. Der glänzende schwarze Lack reflektierte das Minarett der Moschee und den Himmel. Die Straße war menschenleer. Nur hinter einer der nächsten Ecken erklang das Scheppern von Mülltonnen, die über das Pflaster gerollt wurden.
    Es war eine schmale Straße, gesäumt von Hinterhöfen voller Gerümpel und schmucklosen Backsteingebäuden mit verwitterten Mauern, in denen die Fenster von Gittern und Metallrollos gesichert wurden. Rote, schwarze, gelbe oder blaue Graffiti überzogen den zernarbten Verputz, flankiert von unverständlichen Botschaften auf Arabisch, Russisch und Türkisch. Zu beiden Seiten türmten sich Müllsäcke aus grauem Plastik zwischen Kunststofftonnen und klobigen Rollcontainern.
    Dany stand hinter einem der Container, sodass Ella ihn sehen konnte und er sie, falls sie ihn brauchte.
    Der Wind war frisch, aber es begann schon heiß zu werden. Von den Abfallsäcken und geplatzten Tüten stieg ein süßlicher
Gestank auf. Aus den offenen Fenstern der Moschee drangen die murmelnden Stimmen von Männern, die ihr Morgengebet verrichteten. Das Scheppern der Container klang jetzt näher, und das Knirschen und Kreischen der Hydraulikkolben am Heck der Müllwagen übertönte die Gebete.
    Ella sah auf ihre Uhr. Es war eine Minute vor sechs.
    Genau um sechs schwang die Tür auf der Fahrerseite des Mercedes auf,

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