Erlosung
Jetzt erst bemerkte sie, dass seine Hand in die Tasche ihrer Jacke geraten war und langsam wieder herausrutschte. Sie beugte sich über ihn und riss sein Hemd auf, wieder ein Reflex, weil sie dachte, vielleicht lebt er noch, vielleicht waren die Schüsse nicht tödlich.
Aber er hatte keinen Puls mehr, und seine Augen unter der gesplitterten Sonnenbrille waren erfüllt vom wolkenlosen Blau des Himmels, dem grellen Glanz der Sonne, sogar vom winzig kleinen Spiegelbild einer Frau, die sich über ihn beugte. Von allem Möglichen waren sie erfüllt, nur nicht mehr von dem kleinsten Funken Leben.
Ella richtete sich auf. Der Motorradfahrer starrte zu ihr herüber, den Zauberstab noch immer in der ausgestreckten Hand. Die Hand ruckte mehrmals schnell hintereinander. Der Zauberstab warf winzige weiÃe Blitze aus, die rauchend durch die
Luft segelten und neben dem Motorrad über die Fahrbahn hüpften. Rechts und links von Ella machte es plopp, plopp, plopp! im Asphalt, in den Plastiktonnen, im Mauerwerk.
Sie duckte sich, warf einen Blick zurück. Sah Dany, der über den Hof auf sie zugelaufen kam, unscharf, wie in Zeitlupe. Zu seinen FüÃen sprangen kleine Staubfontänen auf â plopp, plopp, plopp! â , und einen Moment lang wusste sie nicht, was sie tun sollte. Das Blut dröhnte ihr in den Ohren wie eine dumpfe Brandung; sie hörte nur diese Brandung und den langsamen Schlag ihres Herzens.
24 Bilder. 48 Bilder. 72 Bilder.
Plötzlich liefen Ton und Bild wieder synchron. Geduckt rannte sie vom Hof auf den Transporter zu, vorbei an Tonnen und Containern, schlüpfte zwischen die Männer in den Latzhosen. Dann war sie hinter dem schwankenden Müllwagen, sein Gestank nach fauligem Abfall, Dieselöl und warmem Gummi hüllte sie ein. Die Karosserie nahm ihr die Sicht auf den Motoradfahrer, und hinter einem Schleier aus Staub und Abgasen bewegte sie sich neben den massiven Gummireifen her, die türkisch brüllenden Männer in den Latzhosen hinter sich, die nächste SeitenstraÃe vor sich.
»Ella! Ella!«
Durch das Dröhnen hörte sie Dany rufen, aber sie blieb nicht stehen, denn lauter als seine Stimme und lauter sogar als den Lärm des Müllwagens vernahm sie in sich die Worte, die sie erst von Freyermuths Lippen gelesen und dann noch einmal deutlich mit seinen letzten AtemstöÃen gehört hatte.
Madeleine Schneider hatte keinen Bruder.
22
Ella riss sich das schwarze Tuch vom Kopf, nahm die Sonnenbrille ab und wartete, bis ihre Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten. Sie befand sich in ihrer Wohnung, aber alles um sie herum sah aus wie ein Fotonegativ: Sie erkannte die Dinge darauf wieder, nur dass sie anders wirkten, anders als gewohnt. Benommen stand sie an der Tür, und ihr war ein wenig übel, wie nach dem Aufwachen aus einer Narkose. Als sie abschlieÃen wollte, stellte sie fest, dass sie den Riegel bereits vorgeschoben hatte.
Sie starrte auf das Durcheinander im Gang: die überladene Garderobe, die im Halbdunkel verstreuten Schuhe, das Fahrrad, das an der Wand lehnte. Im Wohnzimmer verdorrte Blumen auf dem niedrigen Marmorfensterbrett. Die leinenbezogene schwarze Couch. Der lackierte Rattansessel. Der rote Nierentisch. Der ausgefranste Kelim auf dem von Stöckelschuhabsätzen zernarbten Parkett. Der halb offene Plattenschrank mit dem Fernseher darauf. Die angelehnte Tür zum Schlafzimmer. Im Schatten der heruntergelassenen Jalousien stand die Luft. Stickig, warm.
Das Lämpchen des Anrufbeantworters neben dem Telefon blinkte. Sie drückte die Abspieltaste. Eine digital zusammengesetzte Frauenstimme sagte: »Sie haben sechs Anrufe. Anruf Nummer eins, erhalten am 13. August, 23 Uhr 17.« Silvan, eindeutig aufgebracht: »Ella, Silvan hier! Sag mal, was hast du denn jetzt schon wieder angestellt? Ich kann nicht glauben, dass
du tatsächlich eine Patientin verloren hast! Die Polizei war hier und hat Fragen gestellt â die Kriminalpolizei! Ist dir eigentlich klar, wie das aussieht, was das für mich bedeutet? Immerhin denken alle, wir wären noch zusammen. Ich habe natürlich schon bei deiner groÃen Szene im Auto gewusst, dass mit dir etwas nicht stimmt, aber ich wusste nicht, dass es so schlimm ist. Ruf mich an und erklär mir das, ja? Dein Handy ist gestört, aber irgendwann wirst du das hier doch wohl hören. AuÃerdem hast du noch Sachen von mir.«
Die digitale Frauenstimme
Weitere Kostenlose Bücher