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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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Mados Verschwinden. Er wusste noch nichts von mir. Er hat sich die DVD angesehen, und dann kamen die Meldungen in den Medien, und auf einmal ist ihm klar geworden, dass er auch in Gefahr schwebt, er und seine Tochter.
    Sie sagte: »Reden Sie mit niemandem darüber. Wenn Sie jemand davon erzählen und Mado stirbt, dann ist das Ihre Schuld.«
    Freyermuth erstarrte. »Wissen Sie es denn nicht?«, fragte er überrascht.
    Â»Was?
    Â»Ich dachte, Sie wüssten es.«
    Â»Was denn?!«
    Â»Sie wurde gefunden.«
    Â»Mado?«
    Â»Es kam heute Morgen in den Nachrichten«, rief Freyermuth, gerade als die Männer in den orangen Latzhosen die geleerten Container wieder über den Hof zur Laderampe des Supermarkts rollten. »Ihre Leiche ist gefunden worden.«
    Ella hatte das Gefühl, der Boden schwanke unter ihr, als rutsche sie ein weiteres Stück zum gefährlichen Rand der Erde. »Wo?«, fragte sie benommen. »Wann?«
    Â»Gestern, in der Charité«, sagte der Anwalt schreiend und wedelte mit seinem Hut, als wollte er die Müllmänner damit vertreiben wie Krähen von frisch gestreutem Saatgut. »Offenbar ist sie dort ihren Verletzungen erlegen. Wann, scheint noch nicht ganz geklärt zu sein. Ebenso die genauen Umstände. In dem ganzen Durcheinander nach dem Brand in der Disko ist sie anscheinend mehrmals verlegt worden, von Station zu Station, und kurzzeitig wusste niemand, wo sie war. Die Klinikleitung hat ihr Bedauern darüber ausgedrückt, dass es zu diesem Fall von menschlichem Versagen kommen konnte.«

    Â»Was ist mit der Leiche passiert?«, fragte Ella. Mutlosigkeit schlug wie eine schwarze Woge in ihr hoch und brach sich hinter ihren Augen. »Was haben sie mit ihr gemacht?«
    Â»Es hieß, da sie keine lebenden Verwandten hätte, wurde sie eingeäschert.«
    Sie haben alle in der Hand. Man kommt nicht gegen sie an. Sie lügen, und sie bringen andere dazu zu lügen. Sie töten, und sie bringen andere dazu, sie zu decken.
    Â»Sie hat Verwandte!«, schrie sie. »Sie hat einen Bruder – Daniel! Er ist hier, in Berlin!«
    Die Männer in den orangen Latzhosen arretierten die Räder der Metallcontainer und gingen weiter die Straße hinab, ohne auf Ella, Dany oder den Anwalt zu achten. Der Fahrer des Müllwagens rammte den ersten Gang ins Getriebe und gab Gas. Eine schwarze Dieselwolke nebelte die Fahrbahn ein, als er langsam losfuhr.
    Hinter dem Müllwagen tauchte die Kawasaki wieder auf. Der Motorradfahrer, ganz in schwarzes Leder gekleidet, drehte langsam den Kopf, der Sichtschutz des Helms reflektierte die Sonne. Er bremste und zog einen länglichen Gegenstand aus einer an seiner Brust befestigten Tasche. Er schwenkte den Gegenstand wie einen Zauberstab in ihre Richtung.
    Krachend schmetterten die Hydraulikkolben des Müllwagens ein Haus weiter den nächsten Container aufs Pflaster. Freyermuth trat einen Schritt auf Ella zu, als wollte er sie besser verstehen können. Doch statt zuzuhören, schrie er ihr etwas ins Gesicht, das im Getöse unterging. Sie starrte auf seinen Mund, sah, wie er die Worte formte, und verstand ihn noch immer nicht.
    Auf einmal schien es, als wäre er ihr eine Sekunde in der Zeit voraus, nur eine Sekunde, in der er etwas in der Zukunft erblickte, das ihr noch entging. Sein Gesicht nahm einen erstaunten Ausdruck an, der jäh zu Entsetzen wechselte, und dann war
die Sekunde vorbei und auch Ella sah, was er gesehen hatte: seinen eigenen Tod.
    Etwas schlug lautlos in Freyermuths Hals und zerfetzte den weißen Button-down-Kragen. Aus dem Loch schlug Ella ein roter Sprühregen warm und feucht ins Gesicht. Eine zweite Kugel schleuderte ihr den Anwalt in die Arme, aber sie begriff nicht sofort, dass es Kugeln waren, dass es sich bei dem warmen, roten Dunst in ihrem Gesicht und auf ihren Armen um sein Blut handelte. Sie sah es, aber sie traute ihren Augen nicht.
    Sie öffnete den Mund und schrie. Mühsam hob Freyermuth eine Hand und zog ihren Kopf zu sich herunter, und plötzlich war es so still, dass sie deutlich hören konnte, was er ihr sagte.
    Es war so still, dass sie sah, wie die Müllmänner die Container zurückrollten, aber sie hörte das Scheppern nicht mehr und nicht das Gebrüll, mit dem sie den orangen Wagen weiterdirigierten.
    Freyermuth war auf einmal sehr schwer. Sie konnte ihn kaum noch halten. Vorsichtig ließ sie ihn auf den Asphalt sinken.

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