Erlosung
genommen, mit dem sie Kontakt hatte. Leute wie die verlieren keine Zeit. Sie arbeiten schnell und gründlich und überlassen nichts dem Zufall. Jetzt, wo er tot ist, werden sie versuchen, anders an die DVD zu kommen.«
Ella fiel der Schlüssel wieder ein, den sie in ihrer Jackentasche gefunden hatte. »Sie können doch nicht einfach in Freyermuths Kanzlei auftauchen, sämtliche Mitarbeiter erschieÃen, den Safe aufbrechen und mit der Disc wieder verschwinden.«
Dany griff nach der Fernbedienung und stellte den Ton des Fernsehers lauter. Auf dem Bildschirm sah man einen gebräunten Mann mittleren Alters mit mattsilbernem Haar â eleganter dunkelgrauer Anzug, hellblaues Seidenhemd und bordeauxrote Krawatte â, der im Blitzlichtgewitter zahlreicher Fotografen aus einem schwarzen Bentley stieg. Ein Sprecher erklärte:
»Im Fall des vor einigen Tagen spurlos verschwundenen französischen Bankiers Raymond Lazare â hier eine Archivaufnahme â verdichten sich die Hinweise, dass er das Opfer einer Entführung geworden sein könnte. Der 55jährige Lazare, der einer alten elsässischen Unternehmerfamilie entstammt, gehört nicht nur zu den mächtigsten Männern der Hochfinanz, er ist auch ein gefragter Berater europäischer und amerikanischer Regierungsspitzen. In letzter Zeit hat er sich wiederholt für Staudämme gegen die frei flieÃenden Kapitalströme internationaler Investmentbanken und Hedgefonds sowie für die Einrichtung staatlich kontrollierter Ratingagenturen ausgesprochen â «
Lazare bewegte sich lächelnd und Hände schüttelnd wie ein Popstar auf das Tor des Elysée-Palastes zu. Plötzlich durchzuckte Ella ein elektrischer Schlag, als sie die Menschen sah, die sich im Zwielicht des beginnenden Abends um den Bankier drängten. »Dany, da! Siehst du das?!«
Unter den Schaulustigen, die sich vor- und zurückbewegten, stand ein Mann völlig reglos, als gäbe es keinerlei Berührung zwischen ihm und der Menge ringsumher. Er stand da und starrte Lazare an, aber nicht nur Lazare â auch die junge Frau, die hinter ihm die Limousine verlieÃ. Der Mann hatte eine kräftige Nase und ein breites Kinn. Seine Augen lagen im Schatten einer Hutkrempe, aber Ella erkannte ihn trotzdem wieder, die verpflanzte Haut auf der verbrannten linken Gesichtshälfte, deren Puppenrosa im Widerschein des Blitzlichtgewitters nicht so deutlich zur Geltung kam, aber trotzdem erkennbar war.
Die Kamera schwenkte auf die Frau. Sie trug ein elegantes Abendkleid aus dunkelroter Seide, fuhr sich im Aussteigen mit einer schlanken Hand über die Wange und warf den Fotografen ein kurzes, gekonnt scheues Lächeln zu.
»Ist das seine Geliebte oder seine Tochter?«, fragte Dany.
Ein gedämpfter Klingelton erklang, unvertraut und hartnäckig,
und Ella brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es ihr neues Handy in der Jacke auf dem Bett war. Sie holte es hervor und entdeckte eine unbekannte Nummer auf dem Display, nahm den Anruf aber trotzdem entgegen. »Ja?«
»Sehr gut, du meldest dich nicht mit deinem Namen«, sagte Annika dicht an ihrem Ohr. »Und du klingst ziemlich gut für jemanden, den sie ohne Brandsalbe in einen aktiven Vulkan geschmissen haben!«
»Anni!«
»Ich habe im Fernsehen verfolgt, was bei dir los ist!« Annika schien zu kichern. »Selbst wenn ich dir vorher nicht geglaubt hätte, dass die Polizei lügt und du Max nicht umgebracht hast â so viele Morde, wie sie dir jetzt in die Schuhe schieben wollen, kannst du gar nicht begangen haben!«
»Wo bist du denn?«
»In Berlin. Morgen ist die Beerdigung. Auf dem Dorotheen-Friedhof in Mitte. Um neun.« Sie atmete tief ein und aus, als läge ein schweres Gewicht auf ihrer Brust. Dann lachte sie kurz, aber nicht fröhlich. »Ich bin nicht davon ausgegangen, dass ich bei dir wohnen kann â oder sollte, wenn ich am Leben bleiben will â, aber wir sehen uns doch bald?«
Ella wurde auf einmal leicht zumute; es war Annikas Stimme und alles, was sie in ihr anrührte. »Sag mir nur, wann und wo.« Sie sah, dass Dany die Augenbrauen hob und drehte ihm den Rücken zu.
Annika sagte: »Ich weià nicht, Berlin hat sich anscheinend ziemlich verändert in den letzten Jahren. Ich bin jetzt im Hotel, und ich möchte mich etwas ausruhen â «
»Ausruhen?«, fragte Ella ungläubig.
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