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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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aus. Wenn du in ein Hotel oder eine Pension gehst, bleib nie länger als eine Nacht. Sprich nicht mit Fremden, nirgendwo. Vorsicht, wenn sich jemand an dich heranmachen will, gleich ob Mann, Frau oder Kind. Sag keinem Menschen, wo du gerade bist oder hingehst. So, das war’s für den Moment. Wenn mir noch was einfällt, melde ich mich wieder.«
    Es war der einzige Anruf, und Ella dachte noch immer über Annika nach, als sie drei Stunden später oben auf der Terrasse einer Bar am Kurfürstendamm saß. Woher weißt du so viel über diese Dinge, Anni?
    Von ihrem Platz konnte sie das Haus sehen, in dem die Büros von Freyermuth, Herzog & Conradi, Patentanwälte, lagen. Es war ein neues, mehrstöckiges Gebäude mit rotbraunen Dachschindeln, das den Eindruck erwecken wollte, es hätte schon immer an dieser Ecke des KuDamms gestanden. Die Fassade spielte mit Elementen der Jahrhundertwende, aber es gab dunkelrote Metalljalousien, die sich je nach Stand des Sonnenscheins automatisch vor den Fenstern hoben und senkten, und die Scheiben bestanden aus getöntem Sicherheitsglas. Zu beiden Seiten des Eingangs waren auf Hochglanz polierte Messingschilder mit den nüchternen Namen von Anwaltssozietäten, Steuerberaterkanzleien und Wirtschaftsprüfern in den massiven Sandstein gedübelt. Marmortreppen führten vom Foyer zu den mit rostfreiem Stahl verblendeten Aufzügen.
    Ella saß im Schatten der Terrassenmarkise, und sie konnte nicht nur das Gebäude sehen, sondern auch wann das Licht in
den Büros hinter den Fenstern an- und ausging. Sie konnte die Kronen der Platanen auf den breiten Bürgersteigen sehen und die Ruine der Gedächtniskirche vor dem Abendhimmel und etwas weiter rechts den weiß strahlenden Mercedesstern auf dem Bürohochhaus mit den vielen erleuchteten Fenstern. Sie konnte auch das obere Deck der vorbeifahrenden Busse und ein Stück vom KaDeWe sehen. Sogar die Züge konnte sie sehen, die klobigen gelben S-Bahn-Waggons und die schlanken ICEs, die über die rostigen Eisenstelzen der Hochstrecke zum Bahnhof Zoo rollten.
    Später konnte sie sehen, wie der Himmel seine Farbe veränderte und wie die Straßenbeleuchtung anging und der bunte Neonzauber alles veränderte, den Tag und den Abend. Aber das meiste von dem, was sie sehen konnte, interessierte sie nicht. Sie interessierte, wann das Licht erlosch in den Fenstern, hinter denen Freyermuth, Herzog & Conradi Patentanträge vorbereiteten, formulierten oder anfochten. Sie interessierte, wer das Gebäude betrat und wer es verließ und ob bekannte Gesichter darunter waren.
    Dann begann es zu regnen, und der stete Wind, der den KuDamm hinaufwehte, wurde zum Sturm. Dichter Regen peitschte die Platanen und die Stromleitungen und Laternen über der Straße, und bald konnte sie nichts mehr sehen außer dem Regen.
    Sie flüchtete ins Innere der Bar, genau wie Dany und die anderen Gäste; sie war nur nicht so fröhlich wie der Rest. »Wir müssen warten, bis die Putzkolonne anrückt«, sagte sie. »Wir müssen irgendwie ins Gebäude reinkommen. Wir bestechen jemanden, damit er uns seinen Overall überlässt oder was die sonst tragen. Was Besseres fällt mir nicht ein. Dir?«
    Dany zuckte mit den Schultern, schüttelte den Kopf und strich sich eine nasse Haarsträhne aus der Stirn, genau wie Paul es getan hatte. Seine Augen schienen grauer geworden zu sein,
sie spiegelten den Regen und etwas von dem Licht über der Straße.
    Er winkte ihrer Kellnerin und bezahlte die Rechnung. Unten drängten sich die Gäste, die von ihren Tischen auf dem Trottoir ins Innere gestürzt waren, auf der Suche nach Plätzen. Der Regen schlug gegen die Frontscheiben der Bar, und die Straße sah aus wie ein schwarzer Fluss voller Autos, die auf dem Wasser fahren konnten. Bunte Gischt schien um die Ampeln zu spülen. Dunst stieg wie Rauch vom Asphalt auf. Die Häuser auf der anderen Seite verschwanden hinter den herabklatschenden Fluten, und die Luft war plötzlich schwer und kalt.
    Als die Fußgängerampel hinter dem Regenvorhang grün wurde, rannten Ella und Dany los und über den unsichtbaren Zebrastreifen. Auf der anderen Seite wandten sie sich nach links, schon durchnässt bis auf die Haut. Kurz vor dem Eckgebäude mit der erleuchteten Lobby bemerkte Ella drei Gestalten, zwei Männer in Windjacken, einer im Regenmantel, die durch den prasselnden

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