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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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Jahreszeit immer wieder ausbrachen, sondern um einen Jungen abzusetzen. Sie saß auf der Friedhofsmauer und beobachtete den Jungen, der da in seiner tiefblauen Uniform auf dem Kirchplatz stand, den Helm unter dem Arm, eine bauchige Ledertasche neben den Stiefeln. Er war groß und schlank, und mit seinem pechschwarzen Haar fast zu schön für jemanden, der sich in eine Uniform stecken ließ, nur um auf einem roten Wagen herumfahren zu können.
    Als der Spritzenwagen fort war, kniff der Junge die Augen
zusammen, denn der Staub hing noch in der heißen, windstillen Luft. Er sah sich um, als wüsste er nicht genau, wo er war, dann hob er seine Tasche auf und ging über die Hauptstraße auf den Friedhof zu, vorbei an dem Tabakhändler, dem Gemischtwarenladen, dem Gasthof und dem Friseursalon mit dem verchromten Teller über der Eingangstür, der an manchen Tagen im Wind hin und her schlug, aber nicht an diesem.
    Ella rührte sich nicht vom Fleck. Sie saß auf den warmen Steinen der Mauer, mit dem Rücken zu den Gräbern, und ließ die Beine baumeln, während sie zusah, wie der Junge näher kam. Als er schon fast an ihr vorbei war, blieb er stehen. Er sah sie an und lächelte, wie außer ihm noch niemand gelächelt hatte, wenigstens konnte sie sich nicht daran erinnern. Der Mund wurde ihr trocken unter dem Blick seiner Augen, die ungefähr den Farbton seiner Uniform hatten. Von Nahem konnte sie erkennen, dass er älter sein musste, als sie gedacht hatte. Ein junger Mann, kein Junge mehr. Die Haut in seinen Augenwinkeln zeigte bereits ein Netz kleiner Fältchen. Hey, sagte er und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Ella sagte auch Hey , mehr nicht.
    Er strich sich die Haarsträhne noch mal aus der Stirn, aber auch diesmal fiel sie sofort wieder zurück. Ella formte eine Kaugummiblase vor dem Mund, Erdbeergeschmack, und ließ sie platzen.
    War schön, mit dir zu reden , sagte er und ging weiter, den Helm in der einen, die schwarze Ledertasche in der anderen Hand. Ella holte tief Luft und hätte sich beinahe an dem Kaugummi verschluckt. Kaum dass der Junge um die Ecke ihres Hauses verschwunden war, sprang sie von der Mauer, und als sie stand, stellte sie fest, dass ihre Knie zitterten, und das war ihr noch bei niemandem passiert.
    Sie folgte dem Jungen, der kein Junge mehr war, mit gesenktem Kopf, wie zufällig. Wenn man jemanden verfolgte, musste
es immer wie zufällig aussehen, so viel wusste sie schon. Die weiß getünchten Häuser und die Straße blendeten im Sonnenlicht, und sie sah nichts außer ihren nackten Füßen in den staubigen Sandalen und darüber die langen, braungebrannten Beine, die sich wie von selbst bewegten. Ihr Herz schien plötzlich doppelt so groß zu sein, und es schlug viel schneller als sonst.
    Sie bog um die Ecke und sah gerade noch, wie der Junge in der blauen Uniform das Haus neben der Pfarrei betrat. Vor der Schwelle lag ein Schäferhund, der gedöst zu haben schien, jetzt aber den Kopf verdrehte, damit er sie im Auge behalten konnte. Gleich darauf verschwand der Junge im Inneren des Hauses. Außer dem Hund und Ella war die Gasse menschenleer, denn das halbe Dorf sah zu, wie draußen auf dem Bolzplatz die Karussells und das Riesenrad und der Autoscooter der Kirmes abgebaut wurden.
    Ella sagte Hey zu dem Hund, bot ihm das schillernde Spektakel einer vor ihrem Gesicht zerplatzenden Kaugummiblase und lehnte sich neben der Tür an die Hausmauer, um sich darüber klar zu werden, was gerade mit ihr geschah. Durch den Stoff des Hemdes spürte sie die Wärme des Mauerwerks. Nach einer Weile schloss sie die Augen und ließ sich daran hinunterrutschen, bis sie mit ihrem Gesäß die Fersen berührte. Der Hund sah sie an, und sie sah den Hund an und sagte, manche Wesen laufen anderen eben zu.
    Nach einer weiteren Weile wurde über ihr im Dachgeschoss ein Fenster geöffnet. Aus dem Zimmer dahinter drang Musik auf die Straße, ein helles, trauriges Sopransaxophon, eine Trompete, Klavier und Klarinette. So lernte sie an einem Tag Paul Mathis, Rettungssanitäter bei der Feuerwehr, und Sidney Bechet, Jazzmusiker, kennen und es dauerte nicht mehr lange, bis sie in jenem Sommer zur Musik des einen ihre Unschuld an den anderen verlor.
    Sie sahen sich die ganzen Ferien über, immer heimlich. Noch
in niemanden war sie so verliebt gewesen wie in diesen Jungen mit dem schwarzen Haar, das

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