Erlosung
»Du?«
»Ja, ich, verdammt, Bambi!« Jetzt klang Annikas Stimme fast brüchig. »Die Fahrt war anstrengend, erst von London zur Fähre und danach weiter mit dem ICE â «
»Warum bist du nicht geflogen?«
»Fliegen ist nicht mehr drin, Bambi, viel zu kompliziert bei meinem Zustand. Ich rufe dich wieder an. Wollte dir nur sagen, dass ich hier bin und dich sehen möchte.«
»Deinem Zustand, was heiÃt das?« Ella spürte, wie das leichte Gefühl an den Rändern zerfaserte. »Geht es dir nicht gut, Anni?«
»Nein, kann man nicht direkt sagen«, lautete die Antwort. » Der Zug ist längst abgefahren. Was heiÃt abgefahren, die ganze Strecke ist stillgelegt. Die haben sogar schon die Schienen rausgerissen und woanders verlegt. Aber vermutlich geht es mir immer noch besser als dir.« Wieder der Laut, der wie ein Kichern klang. »WeiÃt du noch, früher â unser Lied aus Annie get your gun ? Anything you can do I can do better â «
» I can do anything better than you «, fiel Ella ein.
»War eine schöne Zeit damals. Ach, und vergiss bloà nicht, dich an die Anweisungen zu halten, die ich dir auf die Mailbox gesprochen habe.« Ein Geräusch erklang, als fiele etwas zu Boden. Annika schien auf einmal ein Stück weit entfernt vom Hörer, der ebenfalls hinunterfiel, ohne dass die Verbindung unterbrochen wurde. »Bambi ⦠ScheiÃe ⦠verdammt! «, konnte Ella hören, dann einen Laut â halb Keuchen, halb Stöhnen â, gefolgt von einem Klappern, wie wenn jemand mit einer Faust schnell hintereinander auf Teppichboden schlug. Eine Sekunde später gab es ein Krachen, und die Leitung war tot.
Ella stand wie erstarrt neben dem Bett. Ein eisiges Gefühl kroch ihr die Wirbelsäule hinauf bis unter das Haar. »Anni?!« Sie starrte ihr Handy an, die Nummer auf dem Display, und drückte hastig mit dem Daumen die Rückruftaste, aber sie erhielt nur ein Freizeichen, das nicht aufhörte.
Was um Himmels willen ist da los? , dachte sie ängstlich und wütend zugleich.
»Wer war das?«, fragte Dany hinter ihr.
»Eine Freundin. Die Schwester von Max. Wir haben zusammen studiert. Sie ist hier, um seine Beerdigung zu regeln.«
»Wann ist die Beerdigung?«
»Morgen.«
»Willst du hingehen?«
»Nein. Doch. Ich weià nicht. Er war mein bester Freund.«
»Die Polizei wird da sein. Und die anderen auch. Es ist zu gefährlich.«
Ella warf das Handy aufs Bett und tat, was Annika vermutlich an ihrer Stelle getan hätte, früher, als sie sich noch nicht auszuruhen brauchte. Sie holte den Schlüssel aus der Tasche. »Den hier habe ich vorhin gefunden, in meiner Jacke.«
»Was schlieÃt der auf?«, fragte Dany.
»Mein Herz jedenfalls nicht.«
»Einen Tresor vielleicht.« Er nahm den Schlüssel, betrachtete ihn von allen Seiten. »Kann es sein, dass Freyermuth ihn dir in die Tasche geschoben hat?«
»Er hat gesagt, er würde mir die DVD auf keinen Fall geben«, erklärte Ella. »Ich glaube, er dachte, sie wäre so etwas wie eine Lebensversicherung für ihn und seine Tochter.« Sie schob den Schlüssel wieder in die Tasche, verstaute das Handy in der Jacke, zog die Jacke an und fuhr in ihre Schuhe. »Er hatte nicht viel Zeit, es sich anders zu überlegen.«
»Wo willst du hin?«
»KuDamm.«
Unterwegs hörte sie die Mailbox ihres Handys ab. Annikas Anruf war um kurz nach halb sieben gekommen. »Pass auf«, sagte sie, »ich binâs noch mal. Ich will dich nicht beunruhigen, aber ich möchte dir noch ein paar Tipps geben, die du vielleicht brauchen kannst, falls du überwacht wirst. Du kannst telefonieren, aber nur aus öffentlichen Telefonzellen oder mit Einweghandys. Aber ruf niemanden an, den du kennst, vor allem keine Freunde, du bringst sie dadurch in Gefahr. Wenn du doch telefonieren musst, melde dich nicht mit deinem richtigen Namen und vermeide jede ÃuÃerung, durch die man dich identifizieren
könnte. Benutze nie Kredit- oder Bankkarten, wenn du was kaufst. Am besten hast du immer genug Bargeld bei dir.«
Ihre Stimme klang atemlos, und im Hintergrund hörte Ella Bahnhofslärm. »Geh nicht noch einmal in deine Wohnung, unter gar keinen Umständen, auch nicht zu deinem Wagen. Komm nicht auf die Idee, deine E-mails abzufragen, auch nicht von einem Internetcafé
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