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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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ihm andauernd in die Stirn fiel. Sie ging nicht mehr so häufig mit Van Gogh zum Malen, und zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass sie ihm nicht so sehr zu fehlen schien, wie sie befürchtet hatte. Dafür fehlte sie jetzt Paul, das sagte er wenigstens. Sie begleitete ihn überallhin, wo auf den Dörfern die Feuerwehr zum Einsatz kam; wo Brandmeister und Sanitäter gebraucht wurden, fünf Wochen lang, auf Jahrmärkten, bei Schützenfesten und Seifenkistenrennen.
    Es geschah auf einem Jahrmarkt an ihrem letzten Samstag gegen zehn Uhr abends. Paul und ein anderer Sani kümmerten sich um einen Betrunkenen, der beim Autoscooter gegen einen Stützpfeiler gerannt war und aus einer Platzwunde an der Stirn blutete. Ella bummelte allein über den Rummelplatz. Ein Autoscooter, ein Kettenkarussell, ein paar Wurf- und Schießbuden und ein Riesenrad, mehr war da nicht, außer dem Bierzelt. Überall roch es nach gebrannten Mandeln, Bratwurst und Zuckerwatte. Und nach der Asche der Kartoffelfeuer auf den Feldern, aber nur ganz schwach und nur, wenn der Wind richtig stand. Der Wind war abends jetzt schon so kühl, dass Ella ihren weißen Lackledermantel übergezogen hatte, den, der bis zu den Knien reichte, außerdem trug sie die hellblauen Jeans und rote Stiefeletten.
    Aus den Lautsprechern der Schausteller leierten die Schlager von vor tausend Jahren, wenn die Kerle nicht gerade selbst mit ihren heiseren Stimmen ins Mikro brüllten, das sie immer zu nah an den Mund hielten, sodass man sie kaum verstehen konnte. Aber Ella hörte sowieso nicht zu. Sie achtete auch nicht auf das Lachen der Kinder oder das Klingeln vom Haut-den-Lukas oder das Scheppern der Dosen in der Wurfbude. Nicht mal das Grölen der jungen Burschen, die in Trauben über den Platz schlenderten, nahm sie wahr.
    Sie fühlte sich seltsam, gleichzeitig wütend und traurig,
sehnsüchtig und nervös und zärtlich. Nichts passte zusammen, aber alles zerrte an ihr, weil sie nicht wusste, wie es nach den Ferien weitergehen sollte mit ihr und Paul. Sie musste ins Internat zurück, dreihundert Kilometer weit weg, dreihundert Kilometer und drei Jahre bis zum Abi, und dazwischen nur die Ferien.
    Ziellos ließ sie sich mit dem Strom der Schaulustigen treiben. Und als sie an einer Schießbude vorbeikam, inspizierte sie die Preise in dem Regal an der Rückwand der verspiegelten Bude: Stofftiere, Puppen mit Tüllkleidern, Spielzeugautos, Fußbälle dazu und noch jede Menge Trostpreise. Sie entschied sich für einen Pandabär ganz oben. Sie bezahlte und schnappte sich das nächste Gewehr, das frei wurde. Sie kniff ein Auge zu, bis sie die bunten Glühbirnen ringsum nicht mehr sah, nur noch die kleinen Enten, die durch ihr Schussfeld glitten. Sie schoss, setzte ab, repetierte, visierte, schoss wieder. Sie schoss das ganze Magazin leer, und keine von den Enten erreichte aufrecht die sichere Deckung.
    Als sie fertig war, reichte sie dem Schießbudenbesitzer das Gewehr zurück. »Den Panda ganz oben, bitte«, sagte sie.
    Â»Wo hast du das denn gelernt?«, fragte der Besitzer und betrachtete sie mit missmutigem Respekt, während er nach einer Holzstange mit einem Haken griff, um den Stoffpanda herunterzuangeln. Sie zuckte mit den Schultern, nahm den Bären, der ziemlich muffig roch, und klemmte ihn unter den Arm. Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass sich am anderen Ende des Platzes eine Menschentraube gebildet hatte; sie sah nur die Rücken, dicht an dicht, reglos. Die Menschen schienen auf etwas zu starren, das sich zu ihren Füßen abspielte.
    Zuerst dachte Ella an eine Prügelei, denn auf jedem Dorffest gab es Prügeleien: brutale, schnelle Schläge, Blut und Schweiß. Sie schaute nie hin, denn ihr wurde nur schlecht davon. Aber hier herrschte Stille, allein die Musik aus den Lautsprechern
schallte über den Platz. Mit einem flauen Gefühl im Magen ging Ella zu der Menschentraube. Sie hatte sie noch nicht ganz erreicht, da sah sie schon Paul, sein blaues Hemd, die reflektierenden Streifen auf der Hose, sah, wie er im Licht der bunt blinkenden Glühbirnen neben einem auf dem Rücken liegenden Mädchen kniete.
    Das Mädchen war blass wie Magerquark, und sein linker Arm stand in einem merkwürdigen Winkel vom Oberkörper ab, wie der einer Gliederpuppe. Eins seiner nackten Beine zitterte heftig, und Ella bemerkte, dass es nur einen Schuh anhatte. Der

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