Ernest Hemingway
den Backen. Er starrte immer noch, wie er vorher gestarrt hatte, auf das Fußende des Bettes. Ich nahm seine Temperatur.
«Wieviel habe ich?»
«Ungefähr hundert», sagte ich. Es waren hundertundzwei und vier Zehntel.
«Es waren hundertundzwei», sagte er.
«Wer hat das gesagt?»
«Der Doktor.»
«Deine Temperatur ist ganz in Ordnung», sagte ich. «Kein Grund, sich aufzuregen.»
«Ich rege mich nicht auf», sagte er, «aber ich muß immer denken.»
«Nicht denken», sagte ich. «Nimm’s doch nicht so tragisch.»
«Ich nehme es nicht tragisch», sagte er und sah starr vor sich hin. Er nahm sich offensichtlich wegen irgend etwas schrecklich zusammen.
«Schluck dies mit etwas Wasser.»
«Glaubst du, daß es helfen wird?»
«Natürlich wird es.»
Ich setzte mich hin und schlug das Piratenbuch auf und begann zu lesen, aber ich konnte sehen, daß er nicht folgte, darum hörte ich auf.
«Um wieviel Uhr, glaubst du, daß ich sterben werde?» fragte er.
«Was?»
«Wie lange dauert es noch ungefähr, bis ich sterbe?»
«Aber du stirbst doch nicht. Was ist denn los mit dir?»
«Doch, ich werde. Ich habe gehört, wie er hundertundzwei gesagt hat.»
«Aber man stirbt doch nicht bei einer Temperatur von hundertundzwei. Es ist albern, so zu reden.»
«Ich weiß aber, daß es so ist. In der Schule in Frankreich haben mir die Jungen erzählt, daß man mit vierundvierzig Grad nicht leben kann. Ich habe hundertundzwei.»
Er hatte den ganzen Tag auf seinen Tod gewartet, die ganze Zeit über, seit neun Uhr morgens.
«Mein armer Schatz», sagte ich. «Mein armer alter Schatz. Es ist wie mit Meilen und Kilometern. Du wirst nicht sterben. Es ist ein anderes Thermometer. Auf dem Thermometer ist siebenunddreißig normal. Auf dieser Sorte achtundneunzig.»
«Bist du sicher?»
«Völlig», sagte ich. «Es ist wie mit Meilen und Kilometern. Weißt du, so wie: wieviel Kilometer machen wir, wenn wir siebzig Meilen im Auto fahren?»
«Ach», sagte er.
Aber die Starre schwand langsam aus seinem auf das Fußende seines Bettes gerichteten Blick; auch seine Verkrampftheit ließ schließlich nach und war am nächsten Tag fast ganz weg, und er weinte wegen Kleinigkeiten los, die ganz unwichtig waren.
Eine Naturgeschichte der Toten
Ich fand immer, daß der Krieg als Feld für die Beobachtungen des Naturforschers völlig ignoriert worden ist. Wir haben von dem verstorbenen W. H. Hudson bezaubernde und zuverlässige Berichte über die Flora und Fauna Patagoniens; Ehrwürden Gilbert White hat äußerst interessant über den Hoopoe, bei dessen gelegentlichen und durchaus ungewöhnlichen Besuchen auf Seiborne, berichtet, und Bischof Stanley hat uns eine wertvolle, wenngleich populäre Allgemeine Geschichte der Vögel beschert. Können wir nicht hoffen, dem Leser ein paar sachliche und interessante Fakten über die Toten zu liefern? Ich hoffe es.
Als Mungo Park, jener rastlose Reisende, einst auf seiner Wanderung nackt und allein in der unermeßlichen Wildnis einer afrikanischen Wüste kraftlos zusammensank und seine Tage als gezählt ansah und nichts für ihn zu tun übrig schien, als sich niederzulegen und zu sterben, fiel ihm eine kleine Moosblume von außerordentlicher Schönheit ins Auge. «Obschon die ganze Pflanze», sagt er, «nicht größer als einer meiner Finger war, konnte ich die zarte Bildung ihrer Wurzeln, Blätter und Kapseln nicht ohne Bewunderung betrachten. Kann das Wesen, das in diesem dunklen Erdteil ein Ding wachsen, gedeihen und zur Vollkommenheit gelangen läßt, das von so geringer Bedeutung scheint, ohne Mitgefühl auf die Lage und das Leiden von Kreaturen hinabblicken, die nach Seinem Bilde geschaffen sind? Gewiß nicht. Überlegungen wie diese erlaubten mir nicht, zu verzweifeln. Ich machte mich auf, weder Hunger noch Müdigkeit achtend, setzte meine Reise fort, überzeugt, daß Hilfe nahe war, und ich ward nicht enttäuscht.»
Kann – wie Bischof Stanley sagt – bei einer gleichartigen Veranlagung, zu bewundern und anzubeten, irgendein Zweig der Naturwissenschaften studiert werden, ohne Glauben, Liebe, Hoffnung, diese drei, zu mehren, deren auch wir, ein jeder von uns auf unserer Wanderung durch die Wildnis des Lebens bedürfen? Lasset uns deshalb sehen, was wir den Toten an Inspiration abgewinnen können.
Im Krieg sind die Toten gewöhnlich männliche Vertreter der Spezies Mensch; bei den Tieren ist dies nicht der Fall, und ich habe unter den Pferden häufig tote Stuten gesehen. Ein interessanter
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