Ernst Bienzle 14 - Bienzle und die lange Wut
Schwäbin fuhr ihm gleich in die Parade: »Nix da. Mir wartet au scho lang gnueg!«
»Ich will ja nur schnell fragen, ob ein kleiner Junge da war... Er sollte drei Brezeln, drei Brötchen und eine Schneckennudel kaufen.«
Die Bäckersfrau wandte sich jetzt erst um. »Ach, Sie sind’s, Herr Gächter. Noi, a Bub ist in der letzten halben Stund net da g’wesen.«
»Sind Sie ganz sicher?«, fragte Gächter, obwohl er schon wußte, daß sich an dem, was die Bäckersfrau gesagt hatte, nichts ändern würde.
Eine Kundin meldete sich: »I stand ja au scho bald a halbe Stund da, und ich hab au koi Kind g’seha!«
»Hano, also a halbe Stund ist aber stark übertrieben«, protestierte die Bäckersfrau ärgerlich.
»Danke!«, rief Gächter in den Raum und rannte wieder hinaus.
»So a g’schuckter Kerle!«, sagte eine der wartenden Frauen.
Bienzle hob Hannelores Koffer in den Wagen. Wie immer war er auf die Minute genau pünktlich gewesen, und wie immer hatte Hannelore gejammert, daß er schon so früh kam. Aber sie hatte sich dann doch sehr beeilt.
Der Himmel hatte sich am Morgen aufgeklärt. Nur noch vereinzelte weiße Wolkenfetzen segelten Richtung Osten. Die Sonne wärmte zwar nicht mehr sehr, immerhin hatten sie schon Ende September, aber es versprach ein schöner Tag zu werden.
Als sie losfuhren, begann Bienzle zu singen: »Bunt sind schon die Wälder, gelb die Stoppelfelder, und der Herbst beginnt.«
Und Hannelore fiel ein: »Bunte Blätter fallen, graue Nebel wallen, kühler weht der Wind.«
Es war Bienzles Lieblingslied, und er behauptete stur, Mozart habe es für den zweiten Satz, Romanze, seines C-Dur-Klavierkonzertes verwendet. Eine Beobachtung, auf die vor ihm keiner gekommen war, nicht einmal ein Musikwissenschaftler.
Hannelore schaute zu ihm hinüber. Wenn man ihn so dabei ansah, wie er sich seines Lebens freuen konnte, verblaßten all die Erinnerungen an seine rauhbauzige Art, die er sonst oft zeigte.
Just zur gleichen Zeit hastete Günter Gächter in zunehmender Panik durch die Straßen und Gassen und in die Hofeingänge seines Viertels. Immer lauter rief er nach Patrick. Aber der Junge antwortete nicht.
Als Gächter die vier Treppen zu seiner Wohnung hinaufstieg, hoffte er noch, der Bub könnte inzwischen zurückgekommen sein und schon mal gemütlich mit Kerstin sein Frühstück begonnen haben. Er stürmte in die Wohnung. Von der Küche her hörte er Kerstins Stimme: »Da seid ihr ja endlich.«
Gächter erschien unter der Küchentür. »Er ist weg!«
Kerstin drehte sich um. »Wie weg...?«
Gächter hob verzweifelt die Arme und ließ sie wieder fallen. »Weg. Spurlos verschwunden!«
»Das kann doch nicht sein...«
»Was soll das heißen: Das kann nicht sein?«, blaffte Gächter zurück. »Er war nicht beim Bäcker, niemand hat ihn auf der Straße gesehen, ich hab alles abgesucht. Keine Spur von Patrick.«
»Wahrscheinlich ist er in die falsche Richtung gegangen, und jetzt hat er sich irgendwie verlaufen«, sagte Kerstin und schlüpfte in ihren Mantel. »Los, wir ziehen noch mal los. Wir finden ihn schon.«
Auch Gächter klammerte sich an diese Hoffnung.
8
Der Mazda bog von einer schmalen, mit Schlaglöchern übersäten Asphaltstraße in eine Hofeinfahrt zu einem ehemaligen Fabrikgelände, das schon vor Jahren aufgegeben worden war. Die Fenster waren alle zerbrochen, die eisernen Fensterkreuze zum Teil herausgerissen oder verbogen. Ein Backsteinkamin bröckelte vor sich hin. Das bunte Laub war von den böigen Herbstwinden der letzten Tage gegen die brüchigen Backsteinmauern getrieben worden und hatte sich an den Kanten zu kleinen Wällen aufgehäuft.
Mascha fuhr durch eine Lücke in der Mauer in eines der finsteren Gebäude hinein und stoppte den Wagen direkt vor einer freistehenden Kammer, die eine intakte Eisentür besaß. Dahinter war einmal die Heizungsanlage für den gesamten Komplex gewesen. Mascha stieg aus und öffnete die hintere linke Tür.
»Los, raus jetzt!« Sie zerrte Patrick aus dem Auto.
Der schrie plötzlich los: »Nein, ich will nicht... ich will nicht... Laß mich los...!«
Mascha fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut, sie beugte sich zu Patrick hinab und redete beschwörend auf ihn ein: »Es dauert nicht lang... Das wirst du schon aushalten.«
Sie schob ihn durch die Eisentür, warf sie hinter ihm zu und schob den rostigen Riegel vor. Von drinnen hörte sie die verzweifelten Schreie des kleinen Jungen.
Die Suche hatte nichts gebracht. Kerstin und
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