Erntemord
wunderhübsch aus wie immer. Ginny sagt, es geht dir gut.“
„Sehr gut, danke.“
Doc MacElroy war schlank und würdevoll. Sein dünner werdendes Haar war weiß, und seine Augen leuchteten so blau wie die von Ginny. Er bot ihr einen Stuhl an, und sie hockte sich auf die Kante, wobei sie erklärte, dass sie nur eine Sekunde bleiben könne, da sie mit Freunden hier sei.
„Abscheuliche Geschichte, das. Sehr abscheuliche Geschichte“, sagte Dr. MacElroy und schüttelte traurig den Kopf. „Bist du sicher, dass du in Ordnung bist? Ginny sagte, du hättest die Leiche dieser armen Frau gefunden.“
„Es geht mir gut. Wirklich.“
„Dein junger Mann war heute bei mir“, erzählte Ginny mit einem Funkeln in den Augen. „Er war auf dem Weg hinaus zu Eric und hielt bei der Gelegenheit auch bei mir. Er wusste, dass ich nicht draußen im Mais herumgelaufen bin, doch er hatte gehofft, dass ich vielleicht etwas gehört oder einen Wagen oder überhaupt etwas Ungewöhnliches gesehen habe. Aber ich fürchte, ich bin eine Stubenhockerin und bekomme nie groß mit, was außerhalb des Hauses geschieht.“
„Sie guckt Gameshows im Fernsehen bei voller Lautstärke“, sagte Dr. MacElroy liebevoll. „Natürlich bekommt sie da nie etwas mit.“
„Aber mir gehört das Land. Vater hat es mir hinterlassen“, sorgte sich Ginny.
„Ginny, bitte, das darf dich nicht beunruhigen“, sagte Rowenna.
„Sie regt sich seitdem die ganze Zeit auf, na ja, du weißt ja. Deswegen dachte ich, dass ein nettes Abendessen eine schöne Abwechslung wäre“, sagte Dr. MacElroy und sah sich imRaum um. „Ich sehe hier heute Abend die Hälfte meiner Patienten – natürlich sind sie jetzt alle erwachsen. Die Zeit fliegt“, fügte er leise hinzu.
„Und wenn man bedenkt, dass ich so etwas noch erleben muss“, sagte Ginny. „Man fragt sich, wo es mit dieser Welt noch mal hingeht.“
„Ginny, schreckliche Dinge können überall geschehen“, erwiderte Rowenna. Schließlich, dachte sie ironisch, zählen die Hexenprozesse mit Sicherheit als schreckliche Dinge.
„Zumindest wird das Erntedankfest die Menschen bald davon ablenken“, sagte Ginny. „Ich helfe dieses Jahr bei den Kostümen aus und habe dir ein wunderschönes Kleid genäht.“ Sie runzelte die Stirn. „Du solltest bald vorbeikommen. Das Fest fängt in ein paar Tagen an.“
„Natürlich. Übermorgen, wäre das recht?“ Rowenna wollte sich am folgenden Tag noch einmal ihrer Recherche widmen.
Ginny nickte. „Solange ich noch Zeit für Änderungen habe, passt mir jeder Termin.“
Dr. MacElroy nickte in Richtung Band. „Ist das dein junger Mann, der dort Gitarre spielt, Rowenna?“
Sie lächelte. Es wirkte so merkwürdig, wenn Jeremy als „ihr“ junger Mann bezeichnet wurde.
„Das ist Jeremy Flynn, ja“, erwiderte Rowenna. „So, ich habe Brad lange genug an der Bar allein gelassen. Ich gehe mal besser zurück.“
„Sicher. Schön, dich wieder zu Hause zu sehen“, sagte Dr. MacElroy.
„Und es ist schön, dich außer Haus zu sehen“, sagte Rowenna zu Ginny.
„Wir waren vor gar nicht langer Zeit aus. An Halloween.“ Sie runzelte plötzlich die Stirn. „Das war der Abend, an dem diese arme Frau verschwand. Dein Freund muss ja Höllenqualen leiden und sich fragen, ob man sie auch in einem Maisfeld finden wird. Oh!“Sie brach ab und starrte entsetzt vor sich hin. Rowenna drehte sich um, um zu sehen, was Ginny irritiert haben könnte, doch sie erblickte nur eine Säule.
„Ginny, was ist los?“, fragte Dr. MacElroy besorgt. Offenbar war er ebenso verblüfft wie Rowenna.
Ginny starrte von einem zum anderen. „Lichter. Ich habe Lichter gesehen.“
Rowenna und Dr. MacElroy tauschten besorgte Blicke.
„Ach, hört auf damit, ihr beiden! Ich bin nicht senil geworden. Es fiel mir nur gerade ein, als wir hier über die Frau sprachen. Ich habe nichts gehört, aber in jener Nacht wachte ich auf und sah hinaus in nordwestlicher Richtung, und ich schwöre, dort draußen waren wacklige Lichter wie von einem Ufo.“
„Ginny, dort draußen ist nur Brachland“, mahnte Dr. MacElroy.
Ginny wandte sich Rowenna zu. „Sieh zu, dass du diesem jungen Mann von dir davon erzählst. Er hat gesagt, es wäre wichtig, dass ich ihm alles erzähle – wirklich alles –, was mir einfällt.“
„Natürlich mache ich das, Ginny. Danke“, sagte Rowenna. Sie verließ die beiden und blieb auf ihrem Weg zurück zurBar kurz am Tisch von Adam, Eve und Daniel stehen. Eve küsste sie auf die
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