Ernten und Sterben (German Edition)
reden.
Als hätte diese Aufforderung die Situation entschärft, trat Anonymous einen Schritt zur Seite, nahm sich einen dicken Pinsel von der Malerpalette und tauchte ihn in einen Eimer mit roter Farbe, der offen dastand. Dann übermalte er ein einfarbiges Bild in langweiligem Grau. Seine Botschaft lautete: »V wie Vendetta.« Die zähflüssige Farbe tropfte hörbar auf den Boden und bildete schnell eine Lache.
»Ich kenne das Buch, ich kenne den Comic, ich kenne den Film. Ich habe mit alledem nichts zu tun. Das ist keine Kunst, das ist Agit-Prop. Mit einigem guten Willen ist es Teil der Popkultur, aber keinesfalls ein eigenständiges Kunstwerk.« Siegfried vergaß völlig seine äußerst prekäre Lage.
Anonymous grinste, jedoch war eine andere sichtbare Gefühlsregung auch schlechterdings unmöglich. Ein weiterer Schritt besiegelte Siegfried Aurichs Schicksal. Es ging sehr schnell, und er spürte fast keinen Schmerz. Allerdings hatte er sich sein Ende so nicht vorgestellt. In seinen kühnsten Träumen hatte er sich auf der Biennale von Venedig gesehen, als gefeierten Künstler, der dem deutschen Pavillon neue Bedeutung einhauchte. Er hatte sich im Giardini di Castello Hof halten sehen, ein Interview jagte das nächste, und der Spiegel setzte Siegfrieds Konterfei auf den Titel.
Alles umsonst, alles vergebens, war sein letzter Gedanke, als das Messer seine Aorta durchtrennte.
Anonymous beendete sein blutiges Handwerk auf gewohnte Weise. Er drapierte Siegfried Aurich auf dem Arbeitstisch seines Ateliers, faltete seine Hände und klemmte den Pinsel mit roter Farbe dazwischen. Den Kopf ließ er in dem Farbeimer versinken, den er dann als Kopfersatz platzierte. Das Logo des Herstellers glich einem Gesicht. Man musste es nur noch in die richtige Richtung drehen. Mit einem Pinsel schrieb er auf das weiße Plastik noch in Großbuchstaben KOPF . Er wusste ja, dass die Polizei mitunter schwer von Begriff war. Beim Verlassen des Ateliers schaltete er erst noch die Musikanlage und dann das Licht aus. Die einkehrende Stille war von finaler Gültigkeit.
Fast lautlos verließ der Mörder Klein-Büchsen in einem dunkelgrünen Hybrid- SUV fernöstlicher Herstellung. Er hielt nur noch einmal an, gerade lange genug, um Siegfried Aurichs »Kunstwerk« am Ortsausgang in Flammen aufgehen zu lassen.
Die verkohlten Überreste von Jack the Ripper brachten am nächsten Morgen sofort die Polizei auf den Plan. Zunächst wurde der Pferdeschmied Gunnar vernommen, der sich aber an nichts erinnern konnte. Auch in den zwei Gasthöfen von Klein-Büchsen waren keine verwertbaren Informationen zu bekommen. Also blieb nur der Weg zum Künstler selbst, um ihn von dem Attentat auf seine Pappmaschee-Figur zu informieren.
Egon-Erwin hatte inzwischen wieder an der Blutspur geleckt. Nach einem Tipp aus der Polizeizentrale hatte er kurzerhand das verkohlte Kunstwerk fotografiert und war dann auf kürzestem Weg zum Schulgebäude gerast. Schließlich hatte er hier schon qualvolle Stunden bei langweiligen Ausstellungseröffnungen über sich ergehen lassen. Die letzte Vernissage war allerdings völlig ausgeartet. Eine Horde russischer Geschäftsleute hatte mit ihren blutjungen Begleiterinnen die feinsinnige Veranstaltung in ein kollektives Besäufnis verwandelt.
»Wir machen mal wieder aus einer Mücke einen Elefanten«, meinte der Beifahrer zu seinem Kollegen.
»Immer noch besser, als vor dem Haus der Ärztin diese nervigen Wegelagerer zu beaufsichtigen«, antwortete der Fahrer. »Bringt doch Abwechslung, und ich wollte immer schon mal sehen, wie so ein Künstler lebt. Der soll ja mit seiner Frau eine ganze Schule bewohnen. Das Gematsche mit Papier und Leim scheint sich irgendwie zu lohnen. Es gibt Verrückte, die zahlen Unsummen für etwas, das einen Materialwert von bestenfalls ein paar Cent hat. Was mich übrigens an diesen Typen erinnert, der mit Fett rumgemanscht hat und zu allem Überfluss auch noch Professor gewesen sein soll. Wie hieß der noch mal schnell?« Die fleischgewordene Halbbildung überlegte. »Der hat doch auch diese Suppen-Dosen gemalt.«
»Du meinst Andy Warhol«, antwortete sein Beifahrer.
»War doch gut, dass sie dich aufs Gymnasium geschickt haben. War dann ja doch zu was nutze«, sagte der andere. »Der hatte doch auch ’ne Disco und hat da solche Orgien gefeiert. Ob der Aurich seine Orgien auch gefilmt hat wie dieser Wahrhuul.« Er sprach den Namen des Pop-Künstlers bewusst falsch aus.
»Du nervst. Kannst du zur
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