Ernten und Sterben (German Edition)
anpassen zu lassen.
Doch so früh morgens war die Kneipe noch geschlossen, musste Ole doch den Sudkessel neu befüllen. Egon-Erwin wunderte sich über den ungewöhnlich regen Verkehr und die schier endlose Autokolonne, die sich im Schritttempo durch Klein-Büchsen quälte. Es schien, als erhoffte sich die gesamte Presse aus Hamburg und Lüneburg hier die Story des Jahres. Er wählte Hubertus’ Geheimnummer.
»Montaigne! Je ne veux pas en parler au téléphone «, meldete sich Hubertus, bevor es richtig geklingelt hatte.
»Hör auf mit dem Montaigne-Quatsch. Du musst jetzt mit mir reden, auch am Telefon. Alles im Lot? Habt ihr schon mit euren Anwälten geredet? Hat die Polizei was Neues herausgefunden?«
»Die Antwort auf alle drei Fragen lautet: nein! Wir sind unschuldig, und das genügt uns. Außerdem gefällt es mir hier ausgesprochen gut. Die Couch ist bequem, das Essen formidabel, und Albertine arbeitet auch schon wieder. Zum Glück hat die Polizei die Straße abgesperrt und lässt nur noch Patienten durch. Vielleicht ist es einfach das Beste, ein paar Tage ruhig abzuwarten, bis sich der Trubel gelegt hat«, sagte Hubertus.
»Na toll! Und womit soll ich jetzt, bitte schön, die Titelseiten füllen?«, brüllte Egon-Erwin ins Handy.
»Das ist doch wohl kaum unser Problem. Ich muss Schluss machen. Aus der Küche zieht ein ungemein verführerischer Duft herein. Clementine bereitet eine Heidschnuckenkeule mit Kürbis-Kartoffel-Gratin vor. Zum Nachtisch gibt’s Ochsenaugen. Übrigens eine äußerst schmackhafte Süßspeise, diese Ochsenaugen«, erklärte Hubertus vergnügt.
»Ich hoffe, das Ochsenauge bleibt dir im Hals stecken«, tobte Egon-Erwin am Rande des Nervenzusammenbruchs und zog dabei die Blicke von Passanten auf sich.
Am Ortseingang hatte sich unterdessen eine Menschentraube gebildet, die nun auch Egon-Erwins Aufmerksamkeit erregte. Mittendrin stand Siegfried Aurich, wie immer in einem weißen Maler-Overall. Mit neunmalklugen Anweisungen malträtierte er zwei seiner Kunststudenten, die damit beschäftigt waren, voluminöse Einzelteile einer großen Skulptur aus einem Lieferwagen zu hieven. Es dauerte knapp fünfzehn Minuten, bis die überlebensgroße Figur aufgerichtet war. Aus reiner Routine und Pflichtbewusstsein begann Egon-Erwin, ein paar Fotos zu knipsen. Doch dann glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu können.
Ein Pappmaschee-Jack the Ripper zierte die Ortsgrenze von Klein-Büchsen. Unter den linken Arm geklemmt war das Haupt eines Mannes, während Jack in der rechten Hand ein großes Messer gen Himmel reckte. Die bessere Hälfte und in Personalunion Muse des Bildhauers verteilte im Partnerlook vegane Cookies ans staunende Publikum. Außerdem warf Gerda Aurich immer einmal wieder mehr oder weniger schwungvoll einen Stapel Flugblätter in die Luft, auf denen ein Wikipedia-Artikel über den Sinn der fleischlosen Protestbewegung informierte. Die Befragung der Zuschauer förderte zwar keinerlei handfeste Informationen, dafür aber allerlei skurrile Meinungen zutage. Zudem ließ sich der unerwartete Menschenauflauf einfach durch einen Aufruf zu einem Flashmob auf der Facebook-Seite des Happening-Künstlers erklären.
Damit hatte Egon-Erwin seine Geschichte für den nächsten Tag – nicht zuletzt, weil die Polizei jetzt auch noch begann, die offensichtlich nicht angemeldete Demonstration kunstsinniger Freaks rasch und effektiv aufzulösen.
Die restliche Pressemeute versuchte noch immer, die Hauptverdächtigen im Klein-Büchsener Doppelmord zu interviewen oder doch wenigstens für ein paar kurze Aufnahmen vor die Kameras zu bekommen.
Egon-Erwin hingegen hatte genug gesehen. Er bestellte sich vorausschauend eine Pizza in die Redaktion und fuhr dann sein durchlöchertes Auto in die Werkstatt, von wo er die letzten Meter bis zu seinem Arbeitsplatz zu Fuß zurücklegte.
Bei Albertine begann sich mittlerweile offenbar eine Art Lagerkoller einzustellen. Schon mehrfach hatte sie versucht, Hubertus wieder nach nebenan zu schicken. Bislang ohne Erfolg.
»Geh jetzt endlich nach Hause und lass mich in Ruhe arbeiten. Verkauf ein paar Bücher im Internet«, forderte sie ihn auf. »Clementine ruft dich, sobald das Abendessen fertig ist.«
»Du willst mich wohl um jeden Preis loswerden, was? Dabei hab ich dir doch den Hals gerettet«, erwiderte Hubertus beleidigt.
»Du hast meinen Ruf ruiniert. Wenn die hier spitzkriegen, dass du mein Lover bist, kann ich mich nicht mehr auf die Straße wagen. Du bist
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