Ernten und Sterben (German Edition)
Menschen gehen zu Fuß, nehmen das Fahrrad oder die Kutsche oders Fuhrwerk oder sitzen auf dem Pferd. Wenn sie in die Stadt oder weiter weg wollen, fahren sie mit der Bahn. Der Bahnhof liegt nur fünf Minuten nördlich.
»Herzlichstes Dorf«, den Titel hat Kirchwies vor ein paar Jahren mühelos errungen. Freilich blühen Geranien und Begonien vor allen Fenstern, steht braun-weiß geschecktes Vieh auf grünen Weiden, singen Vögel in den Bäumen, funkelt das Sonnenlicht in Gold und liegt kein Fitzerl Papier auf den Straßerln und in den Gasserln. Die frühere Tankstelle wurde zu einem Blumengeschäft umgerüstet, der nutzlos gewordene Straßenkreisel mit Rosen bepflanzt, und der Fahrradverleiher am Bahnhof kehrt täglich die Bahnsteige, die Treppe und die kurze Unterführung zu Gleis zwei und drei. Für ein »Schönstes Dorf Deutschlands« täte das alles unter Umständen ausreichen, nicht aber für das »Herzlichste Dorf«. Dazu bedarf es mehr.
Die Idee dazu hatte Max Campari, der rührige Bürgermeister von Kirchwies und Sohn eines berühmten Vaters. Warum grüßen wir uns nicht alle freundlich, wenn wir uns auf der Straße begegnen?, hatte er sich vor Jahren gefragt. Nicht, dass er eine Grußpflicht in seinem Ort eingeführt hätte, oh nein. Die Menschen, gleich ob Männer, Frauen, Jugendliche oder Kinder, folgten ihm freiwillig. Er tat ihnen keinen Zwang an.
Guten Morgen, servus, habe die Ehre, hallo, bis später, gute Nacht miteinander – an jeder Ecke wird seither jeder fröhlich und herzlich begrüßt. Fremde sind überwältigt von der Herzlichkeit, mit der sie empfangen werden, und der Sympathie, die ihnen entgegenweht. Sie tragen den guten Ruf von Kirchwies weit hinaus in die Welt.
Keine Autos, keine Motorräder, alle grüßen sich und sind freundlich. Max Campari setzte noch eins drauf: Lautes Fluchen in der Öffentlichkeit kostet zehn Euro.
Selbstverständlich stammte die Idee von Pater Timo. Der hatte es sattgehabt, die Augen ständig um Vergebung flehend zum Himmel zu richten. Himmelherrgottsapperlott! Kreizdeifinoamoi! Scheißdreck, verreckter! Mi leckst am Arsch! Schleich di, oide Schlambn!, hatte er allerorten gehört. Nichts, was einen anständigen Christenmenschen so recht in himmlische Hochstimmung versetzen konnte.
Campari hatte lange gezögert, den Einfall zu verwirklichen. Nicht weil es ein schlechter Einfall war, sondern weil er von Pater Timo kam. Seit er mit dem Dorfgeistlichen zu tun hatte, war ihm jeder stinkende Ziegenbock sympathischer als dieser Pfarrer.
Der fünfköpfige Gemeinderat hatte sich mit dieser Entscheidung keinen Etatsprung nach oben erhofft. Doch dass in all den Jahren ganze dreißig Euro eingenommen wurden, weil einer öffentlich laut geflucht hatte, das lag nun doch weit unterhalb der Erwartungsgrenze. Anscheinend hatte die Maßnahme geholfen.
Wie gesagt, Kirchwies ist eine Insel des Friedens.
Ein engerlgleiches Dorf, dem allerdings ein großer Sturm bevorsteht.
Es ist die Zeit des beginnenden Sommers. Die Luft hängt wie eine dünne Gardine über dem Dorf, der Bahnstrecke und der Ferienanlage »Blumenhof«. Die Häuser dösen vor sich hin, still und staubig wie aufgespießte Falter. Katzen und Hunde schlummern zwischen den Hecken der Vorgärten, und die tiefe Reinheit der Mittagsstille trägt die Hammerschläge des Bootsbauers unten am Grünsteinsee in die Dorfstraße und die Gassen herauf. Das Blau des Himmels vertieft das Blau des Sees, die Wellen kräuseln sich im leichten Wind.
Wang Ming, der Chinese, füllt die letzten Lücken in den Regalen seines Kramerladens auf. Danach hängt er das Schild »In fünf Minuten zurück« an die gläserne Eingangstür und geht für die nächsten zwei Stunden heim. In seinem Hühnerhof regen sich die Hühner mit gelassenem Krächzen und Glucksen, ungeahnt ihres kümmerlichen und kurzen Daseins.
Die Bäume vor Wang Mings Laden bewegen langsam und genießerisch ihre Zweige. Max Campari, der gewichtige Bürgermeister, legt auf dem Balkon vor seinem Amtszimmer die Beine übers Geländer und schiebt sich eine dicke Prise Schmalzler ein. Eine kleine Gruppe Menschen, welche die Nacht und den Vormittag am See verbracht hat, begrüßt Freunde und begibt sich für die Abreise zum Bahnhof. Westlich von Kirche und Friedhof, drüben am Segelflugplatz, schmiert Anton Scheiberl, dem der Platz gehört, die Seilwinde, um sie geräuschloser zu machen. Pater Timo bereitet seine Sonntagspredigt vor, und Odilo, ein Vieri- oder Fünfjähriger,
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