Ernteopfer
beiden immer stundenlang verweilen. Insbe sondere die Elementa-Ausstellung hatte es ihnen angetan, weil sie physikalische Experimente dort selbst durchführen konnten. Auch für mich gab es jedes Mal den einen oder anderen Aha-Effekt.
Stattdessen ging ich alleine ins Wohnzimmer und warf mich auf die Couch. Als ich nach ein paar Minuten die er drückende Stille um mich herum bemerkte, legte ich eine CD der Puhdys in die Anlage und schlief kurz darauf bei dem Lied ›Alt wie ein Baum‹ ein. Zu meinem Erstaunen gab es nicht einmal irgendwelche Lungenflügel, die mich umtänzelten.
Um halb drei in der Nacht wurde ich wach. Sämtli che Knochen schienen sich gegen mich verschworen zu haben und mir den Wink mit dem Zaunpfahl ›Schlaf das nächste Mal lieber wieder im Bett‹ schmerzhaft zu ver stehen zu geben.
Nachdem ich meine Knochen mit einer heißen Dusche bestochen hatte, ging es mir wieder besser. Nur meine Ge danken verzwirbelten sich um Stefanie, Melanie und Paul. Ich machte das, was vernünftig erschien, wenn man mitten in der Nacht wach wurde und auf andere Gedanken kom men wollte: meine überfällige Steuererklärung.
Über den Belegen musste ich wohl doch noch einmal eingenickt sein. Es war fast 8 Uhr, als das Telefon läutete. Mit einer Reflexbewegung schreckte ich hoch und wischte dabei alle sortierten Belege vom Wohnzimmertisch.
»Palzki.«
»Guten Morgen, Reiner. Ich bins, der Gerhard. Wir brauchen dich. Versuchter Totschlag in Speyer.«
Guten Morgen in Deutschland, dachte ich.
»Aha, kann man schon sagen, ob es eine Verbindung zum Fall Schablinski gibt?«
»Definitiv noch nicht, Reiner. Aber die Wahrschein lichkeit ist ziemlich hoch. Sowohl Opfer als auch Täter sind polnische Erntehelfer.«
»Das ist doch immerhin schon etwas. Habt ihr den Tä ter geschnappt?«
»Ja, der wurde von seinen Kollegen festgehalten. Wir haben ihn aber noch nicht vernehmen können.«
»Was ist mit dem Opfer? Hat es einen Kampf gege ben?«
»Soviel wir bisher wissen, nur einen lautstarken Streit. Schließlich hat der eine dem anderen einen Knüppel über den Kopf gezogen. Der kommt jetzt mit Verdacht auf Schädelbruch ins Diakonissen-Krankenhaus.«
»Okay, dann gib mir mal die Adresse durch.«
»Wir sind hier im Nordosten von Speyer. Genauer gesagt, in der Nähe der Auestraße, wo die vielen Geschäfte sind. Da gehts am ersten Kreisel nach links Richtung Bonnetweiher und auf halben Weg liegt rechts die Firma Weiß. Du kannst dort direkt im Hof parken. Wir erwarten dich. Bis gleich.«
Ich legte auf.
Firma Weiß? Auf diesen Namen war ich doch bereits gestern früh bei diesem Polentreff gestoßen. So lautete doch die Aufschrift auf einem der Wagen. Die beiden Taten ge hörten also wahrscheinlich irgendwie zusammen. Was wür de Dietmar Becker wohl dazu sagen, wenn wir den Mord fall Schablinski damit bereits gelöst hätten? Sein Krimi wäre dann nur noch eine etwas längere Kurzgeschichte.
Ich schnappte mir meinen Bereitschaftskoffer und stopfte in der Küche noch schnell die restlichen essba ren Dinge hinein, derer ich habhaft werden konnte. Den Blumenkohl und den halb verwelkten Kopfsalat ließ ich selbstverständlich liegen.
9
Die Landstraße nach Speyer war leer. Nur mit mindestens Zweiaugenzudrücken hielt ich mich einigermaßen an die herrschende Geschwindigkeitsbegrenzung. Erst an der großen Ampelanlage am Ortseingang Speyer musste ich wieder bremsen. Von dort waren es nur noch etwa 300 Me ter, bis links die Auestraße abbog. Kurz nach dem Kreisel sah ich auf der rechten Seite das große Gehöft.
›Bioprodukte – Verkauf direkt vom Erzeuger – Ge müse- und Obstanbau Weiß‹ stand in bunten Buchstaben auf einem riesigen Schild, das quer über der Hofeinfahrt hing.
Das Hauptgebäude war nur beim ersten Hinsehen mit einem Fachwerkhaus ganz im Stil vergangener Jahrhun derte zu verwechseln. Der zweite Blick verriet schnell, dass es sich um einen modernen Neubau handelte. Das auf alt getrimmte Fachwerk bestand nur aus einer zusätzlich aufgesetzten Hausfassade. Drei Nebengebäude aus Stahl rundeten das Ganze ab. Zwei davon waren von der Hof seite her offen, die dritte Halle war im Hintergrund nur durch ihr Dach zu erkennen. In der linken Halle konnte man einen gut bestückten Fuhrpark mit technischen Ge räten erahnen, die rechte Halle schien als Gemüselager zu dienen. Hier waren sicherlich nicht so viele Kisten wie bei Siegfried gestapelt, für den kleinen Hunger zwischendurch schien es aber zu
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