Ernteopfer
reichen.
Alles in allem machte das Gelände einen sehr sauberen Eindruck, vielleicht hatte am gestrigen Samstag ein Groß putz stattgefunden.
Meine Mitarbeiter waren schon zahlreich vertreten. Ich parkte in einer Lücke zwischen Gerhards Wagen und ei nem Ford-Escort. Ich musste nicht lange nach meinem Kollegen suchen, er stand im Flur des Fachwerkhauses und unterhielt sich gerade mit einer gut aussehenden Frau, die ich auf Mitte 30 schätzte.
Als er mich entdeckte, rief er mir etwas zu, was ich al lerdings nicht verstand, denn in diesem Moment fuhr ein riesiger Lkw mit frischem Gemüse vom Hof.
»Hallo Reiner«, rief er wohl schon zum zweiten Mal.
»Komm bitte gleich mal rüber.«
Als ich vor ihm stand, stellte Gerhard mir die unbe kannte Schöne vor.
»Frau Weiß, das ist Kriminalhauptkommissar Palzki. Er leitet die Ermittlungen.«
»Guten Tag, Frau Weiß. Ihnen und Ihrem Mann gehört der Hof, nehme ich an?«
Gerhard schaute peinlich berührt auf den Boden. War ich schon wieder in ein Fettnäpfchen getreten?
»Nicht ganz, Herr Palzki. Das Geschäft gehört mir mittlerweile alleine. Mein Mann ist vor einem halben Jahr verstorben.«
Nanu, eine so junge Frau und schon Witwe? Hatte sie etwa einen reichen, aber viele Jahre älteren Großbauern geheiratet, um sich so finanziell abzusichern, oder gab es andere Gründe?
Ich bemerkte, dass meine Gedanken abschweiften. Ich befasste mich hier mit dem Leben einer fremden Frau, zugegeben einer sehr gut aussehenden Frau, obwohl ich wegen einer ganz anderen Sache hier war. Ich konnte mir in diesem Moment nicht eingestehen, dass diese Frau mei ne Hormone gehörig ins Wallen brachte. Doch ich riss mich zusammen.
»Entschuldigen Sie bitte, Frau Weiß. Das wusste ich nicht.«
Ein dummer Satz, doch was anderes fiel mir nicht ein.
»Waren Sie Tatzeugin?«, kam ich auf das eigentliche Thema zurück.
»Nein, ich war gerade im Haus beim Frühstück, als man mich rief. Marek und Antoni hätten in der Gemüsehalle eine Auseinandersetzung. So was kommt hin und wieder schon mal vor. Aber so extrem wie heute war es noch nie. Als ich in der Halle ankam, lag Antoni bereits blutüber strömt am Boden und Marek bückte sich gerade über ihn. Ich rief sofort einen Krankenwagen und die Polizei.«
»Antoni Kowalski ist das Opfer, Marek Dzierwa der Tatverdächtige«, ergänzte Gerhard die Ausführungen.
»Konnte dieser Kowalski schon etwas Näheres zum Tathergang sagen?«, fragte ich.
»Nein, er ist bewusstlos und wie man mir sagte, soll er eine klaffende Wunde an der Schläfe haben, fast so wie bei Schablinski. Doch die Tatwaffe ist diesmal bekannt. Es handelt sich offensichtlich um ein herausgebrochenes Stück einer Europalette. Übrigens, Dzierwa ließ sich wi derstandslos festnehmen. Er ist noch hier, du kannst dir selbst ein Bild machen.«
»Wollen Sie reinkommen und zuerst einen Kaffee trin ken?«, mischte sich Frau Weiß wieder ein.
Zu ihr reinkommen? Kaffee? Vielleicht noch ein Bröt chen? Das wärs jetzt. Zuckerbrot für meinen Magen und mein Gefühlsleben. Doch die Peitsche war schneller.
»Danke, Frau Weiß, vielleicht später gerne«, antwortete ihr mein Exfreundkollege Gerhard. Wütend schaute ich ihn an, als wir in Richtung Halle gingen. Er schien aber nichts zu bemerken.
In der Halle mussten wir einem Berg aus geschätzten 100 Kubikmetern abgepackten Rettichen in Holzkisten ausweichen.
»Tut mir leid«, meinte Frau Weiß.
»Eine unserer Zugmaschinen ist defekt, und das an ei nem Sonntag. Das ganze Zeug hier müsste längst bei der Genossenschaft in Limburgerhof sein. 24 Stunden Zeit verzug und wir bekommen nur noch die Hälfte für un ser Erntegut. Aber ohne die Genossenschaft geht es eben nicht. Wir verkaufen höchstens fünf Prozent direkt, den Rest lassen wir durch die Firma Siegfried vermarkten.«
Ich wollte etwas erwidern, doch dazu war keine Zeit mehr. Ein halbes Dutzend Kollegen, mindestens genauso viele Erntehelfer und ein paar andere Personen standen in der hinteren Ecke der Halle zwischen einem Gabelstap ler und einem Polizeitransporter und diskutierten. Vor ihnen auf dem Boden war der Kreideumriss eines Men schen zu sehen. Im Kopfbereich erkannte ich eine größere verwischte Blutlache, die jemand mit einem Bindemittel bestreut hatte.
In zwei Metern Abstand lehnte an einem Gabelstapler ein Holzwürfel mit etwa zehn Zentimetern Kantenlänge, der an einem Brett befestigt war. Ich vermutete, dass dies der Teil der Europalette war, die Gerhard vorhin als
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