Eroberer
seinem alles andere als akzentfreien Latein. »Die Regeln sind ausgefeilt, aber im Kern sind es simple Prinzipien. Unser Tag ist von früh bis spät dem Werk Gottes sowie der körperlichen und geistigen Arbeit gewidmet.« Opus Dei, Opus Manuum, Lectio Divina . »Und soweit es uns möglich ist, bewohnen wir die Große Stille, lauschen nur dem Echo unserer eigenen Seelen und Gottes Gedanken …«
Sie saßen in der kleinen Bibliothek des Klosters, einem Nest aus Büchern, Schriftrollen und gebundenen Pergamenten, die sich auf Borden und in Regalen stapelten. Die einzige Lichtquelle waren Öllampen. Es roch nach altem Leder und saurer Tinte – allemal besser als der Gestank der sieben Sorten Kot, der einem in einem durchschnittlichen germanischen Dorf in die Nase stieg.
Die einzige andere Person im Raum war der junge Novize, der den Wein servierte, Aelfric, ein zierlicher Junge mit ovalem Gesicht. Macson konnte den Blick kaum von Aelfrics glattem Hals wenden, eine Reaktion, die ihn offenkundig selbst in Verwirrung stürzte. Belisarius erkannte, was los war, beschloss jedoch verschmitzt, Macson noch ein wenig leiden zu lassen, bevor er ihn erlöste.
Und Aelfric sprach zwar kaum ein Wort, schien jedoch ihrerseits von Belisarius, einem Mann des römischen Ostens, fasziniert zu sein. Der Grieche spürte ihre große Neugier.
Diakon Elfgar hatte sie am Nachmittag zum Kloster gebracht. Der Abt hieß sie willkommen und versprach, sich Belisarius’ zum Verkauf stehende Bücher anzusehen – aber erst nach dem Ende des Klostertages. Während Macson sich in eine Zelle zurückzog und schlief – der Tod seines Vaters lag ihm noch immer schwer auf der Seele –, erkundete Belisarius das Kloster mit seinen kleinen Werkstätten und Gärten, in denen schweigsame Mönche und Novizen arbeiteten. Er nahm an nicht weniger als drei Andachten in der kleinen Kirche teil und erfreute sich an den wunderschönen psalmodischen und anderen Gesängen der schwarz gekleideten Mönche, die aufgereiht dasaßen wie ein Haufen Krähen.
Sie führten ein strenges, abgeschlossenes Leben, bei dem jede wache Stunde der einen oder anderen sinnvollen Aufgabe gewidmet war; der Entfaltung des freien Willens blieb da nur wenig Raum. Aber im Vergleich
zu dem Chaos draußen war dies eine ruhige, geordnete, äußerst zivilisierte Umgebung – kein Wunder, dass die Söhne von Königen hierher flüchteten. Die Mönche besaßen sogar eine Latrine, die in fließendes Wasser mündete.
Die dem heiligen Petrus geweihte Kirche war ein bescheidener Bau mit Mauern aus Eichenholz und Flechtwerk, obwohl das Strohdach irgendwann im Verlauf ihrer Geschichte durch ein Bleidach ersetzt worden war. Makabererweise stand der Sarg mit den sterblichen Überresten des größten Heiligen des Klosters, Cuthbert, mitten im Raum. Doch diese hölzerne Kathedrale quoll über von Schätzen: ein Altarbesteck aus Gold und Silber, einige äußerst kostbare Buntglas-Scheiben, Fresken und Priestergewänder, in die faszinierende verschlungene Muster aus glitzernden Goldfäden eingewoben waren. Selbst Cuthberts Sarg stand in einem juwelengeschmückten Schrein. Belisarius staunte über den Reichtum, den er an diesem abgelegenen und ziemlich schäbigen Ort vorfand. Das war ein gutes Vorzeichen für seine Buchverkäufe, dachte er.
Und das alles in einem Kloster, das keine hundert Schritte von einem Ort entfernt lag, wo Menschen in einem Haus mit einem heiligen Baum in der Mitte wohnten.
Nach der cena , dem Abendessen, das die Mönche zusammen mit ihren Gästen einnahmen, und der letzten Andacht des Tages, der Komplet, hatte Dom Boniface Belisarius und Macson endlich in die Bibliothek
geführt. Es war eine kleine Sammlung, insbesondere, so Boniface, im Vergleich zu einer viel größeren Anhäufung von Büchern im Kloster des heiligen Paulus auf dem Festland, wo einst der berühmte Beda gearbeitet habe. Dennoch gebe es hier Werke, auf die man stolz sein könne – und Belisarius’ professionelles Auge erspähte schnell ein paar Lücken, die sich aus seinem Bestand füllen lassen würden.
Und hier, versicherte ihnen Boniface, befänden sich auch die geheimnisvollen Strophen der auf kühlem Pergament niedergeschriebenen Prophezeiung, deretwegen Macson einen so weiten Weg zurückgelegt habe.
Boniface war ein »Komputist«. Seine Hauptaufgabe bestand darin, das Datum des Osterfestes und anderer wichtiger Kalendertage für seine Mönchsbrüder zu berechnen. Ein geschwollener, violettroter
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