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Eroberer

Eroberer

Titel: Eroberer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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existiert nicht . Die Zukunft geht kontinuierlich aus der Gegenwart hervor, so wie ein Teppich aus dem Webstuhl.«
    »Aber ihr glaubt nicht an die Wyrd-Schwestern.«
    »Natürlich nicht.«
    »Von wem stammt dann eure Prophezeiung? Ich meine nicht Isolde – wer hat ihr diese Worte eingegeben?«
    Bonfiace schloss die Augen und lächelte. »In der Sage heißt es, der Schöpfer dieses Dokuments – Mensch, Engel oder Dämon – bewohne nicht die Wurzel des Schicksalsbaumes, sondern seine obersten Zweige –
nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft . Man nennt ihn den Weber. Und er hat einen Plan …«
    Dieser verschwommene Mystizismus beeindruckte Belisarius nicht. Aber seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die nächste, fünfte Strophe. Wenn Boniface nämlich recht hatte, war dies die erste der verbliebenen Strophen, welche die Zukunft beschrieben. Er las sie laut vor:
    Der Komet kommt / im Monat Mai. Des
Großen Jahres Mittsommer / weniger neun mal sieben.
Östliche Drachenklaue / durchbohrt Stille, stiehlt Worte.
Neunhunderteinundzwanzig / die Monde des fünften Jahres …
    »Das klingt düster, Dom Boniface. Was mag es bedeuten? Ein Drache ist ein heidnisches Symbol, das kaum in ein christliches Gedicht gehört. Und was ist das für eine Stille?«
    Macsons Augen wurden groß. »In diesem heiligen Hause herrscht Stille. Du hast selbst davon gesprochen, Domnus, von der Großen Stille eures mönchischen Lebens. Ist es möglich, dass dieser Drache, was immer es sein mag, euer Leben stören wird?«
    Boniface antwortete nicht. Aber die drei, Belisarius, Aelfric und Macson, wechselten einen Blick.
    Belisarius sagte: »Wenn das stimmt, stellt sich die Frage, wann es geschehen wird.« Er senkte den Blick
wieder aufs Menologium mit seinen Listen von Monatszahlen. »Wir kennen das genaue Datum, wann euer Cuthbert zu seinem König befohlen wurde. Davon ausgehend sollten wir imstande sein, das Datum der fünften Strophe zu errechnen.« Er starrte auf die Worte. »Neunhunderteinundzwanzig Monate. Wie viele Jahre sind das?«
    »Lass es lieber«, warnte Aelfric. »So große Summen kann man nicht ausrechnen. Das sagt der Domnus.«
    Belisarius lächelte sie an. »Ja, wenn man so zählt, wie es die Römer immer getan haben. Aber ich habe Bekannte unter den Sarazenen, die mir ein paar neue Tricks beigebracht haben. Ich wünschte allerdings, ich hätte meinen Abakus dabei …«
    Vor seinem geistigen Auge sah er eine vollständige Tafel sarazenischer Ziffern inklusive jener wunderbaren Erfindung, der Null , und nahm die Teilung im Kopf vor. Sechsundsiebzig Jahre und neun Monate. Sehr schön, aber was hatte es mit dem »Mittsommer« und »neun mal sieben« auf sich? Ersteres meinte eindeutig den »Mittsommer« dieses von dem Kometen gekennzeichneten Großen Jahres, und »neun mal sieben« waren sicherlich neun mal sieben Monate , die abgezogen werden mussten. Die Hälfte von 921 minus dreiundsechzig ergab abgerundet 397, oder dreiunddreißig Jahre und einen Monat. Das musste vom Beginn des fünften Großen Jahres an gerechnet werden; das vierte begann Anno Domini 684 und war 907 Monate lang … Während Belisarius rechnete, saß Boniface reglos da, mit geschlossenen Augen.

    Schließlich hatte Belisarius sein Ergebnis – und war wie betäubt. Er wandte sich an Aelfric. »Nenn mir das heutige Datum, Novize.«
    »Der vierundzwanzigste Mai«, sagte Aelfric.
    »Das Jahr! Euer päpstliches Jahr, nach Bedas Kalender.«
    »Das Jahr unseres Herrn 793«, sagte Aelfric. Und ihre Augen wurden groß, als sie den Schrecken in Belisarius’ Gesicht sah. »Ist dies das Datum der fünften Strophe? «
    Belisarius konnte es nicht leugnen. Tatsächlich war die Vorhersage noch genauer: Die Drachenklauen würden im Monat Juni ausgefahren werden, genau in diesem Jahr. Nächsten Monat . Belisarius verspürte ein leises Wispern der Furcht, wie ein fernes Donnergrollen über dem Meer. Er hielt sich gern für einen rationalen Menschen in der Tradition von Aristoteles und anderen seiner Vorfahren. Obschon ein Christ, zog er es vor, Engel und Dämonen in einen separaten Winkel seines Bewusstseins zu verbannen, fern von den Dingen des wirklichen Lebens. Doch dank des Textes der Prophezeiung ließ sich diese Trennung nun nicht mehr aufrechterhalten, und eine ungreifbare Bedrohung brach sich Bahn.
    Bonifaces Augen waren geschlossen, als schlafe er, aber auf seinen Lippen lag noch immer ein leises Lächeln. Belisarius hatte das Gefühl, dass Boniface, der

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