Eroberer
Tumor auf der Wange entstellte sein Gesicht. Belisarius hatte sich nicht enthalten können, eine behutsame Bemerkung über den Kontrast zu seinem Klosternamen, Boniface, zu machen. Der Mönch hatte gelächelt und gesagt, es sei »ein Streich, den Gott einem Sünder gespielt hat«.
Während Belisarius geistesabwesend zuhörte, sprach der alte Komputist von den Herausforderungen, denen er sich in seinem Leben gegenübersah. »Es ist ein immerwährender Kampf, dafür zu sorgen, dass das Licht des Glaubens weiterhin in den Seelen der Menschen brennt«, seufzte er. »Und es wird mit jedem Übergangspunkt in der Zeit – wie dem Mittsommerfest, das sie bald feiern – schwerer, denn Übergangspunkte
in der Zeit wie auch im Raum – an Flussufern oder Kreuzungen – sind für sie etwas Heiliges. Und jedes Mal, wenn es eine Seuche gibt, holen sie die Strohpuppen heraus und hängen sie an die Äste ihrer heiligen Bäume.«
Belisarius nickte. »Mir scheint, die Christenheit muss hier primitiv sein. Ich meine das nicht böse. Ihr müsst die Magie des Heidentums mit der größeren Magie Jesu Christi bekämpfen.«
»O ja, daran besteht kein Zweifel«, sagte der Komputist. Sein Tumor leuchtete rot. »Nicht nur das, wir müssen auch die heidnischen Glaubensembleme kolonisieren. Denkt an den ans Kreuz genagelten Christus. Er hängt an einem Baum , dem Born der Weisheit für unsere germanischen Vorväter, und ist mit eisernen Nägeln daran befestigt, ganz ähnlich wie beim Elfenschuss, der den Heiden Krankheit und Tod bringt. Was für eine üppige Mischung von Symbolen, hm, Belisarius? …«
Sie unterhielten sich weiter. Und schließlich brachte Macson mit schlecht verhohlener Ungeduld das Gespräch auf das Menologium der Isolde.
In Wahrheit war dieses »Menologium«, wie Boniface es nannte, für Belisarius eigentlich nur ein Kuriosum; es hatte zwar seine Schritte hierher gelenkt, aber er versprach sich wenig davon. Doch nun, wo er Gelegenheit hatte, es sich genauer anzusehen, erwachte sein Interesse. Es war in irgendeiner germanischen Sprache abgefasst, gekonnt transkribiert und mit ziemlich primitiven Zeichnungen illuminiert. Er
zählte einen Prolog, neun Strophen und einen Epilog, alles mehr oder weniger verwirrend. Die Poesie schien authentisch germanisch sein, soweit er diese frühe Kunstform kannte; jede Zeile bestand aus zwei ausgewogenen Hälften mit jeweils zwei betonten Silben. Die Menge der Zahlen war erstaunlich groß für ein Produkt eines Volkes, das des Rechnens mehr oder weniger unkundig war.
»Das Menologium ist rätselhaft«, sagte Boniface und beobachtete Belisarius’ Reaktion. »Aber als Prophezeiung entspricht es der Wahrheit .«
»Woher weißt du das?«
Boniface fasste die ersten vier Strophen kurz zusammen und erläuterte ihre jeweilige Bedeutung, bis hin zu der im Jahr 684 des christlichen Kalenders erfolgten Aufforderung des Königs, Cuthbert möge zu ihm kommen.
Macson setzte sich aufrechter hin. In seiner Körperhaltung kam seine Gier zum Ausdruck.
»Sind Prophezeiungen in eurer Theologie möglich, Domnus?«, fragte Belisarius.
»Ah! Interessante Frage«, erwiderte Boniface. »Kann irgendjemand – und sei es Gott selbst – die Zukunft kennen? Augustinus von Hippo glaubte, Gott stünde außerhalb der Zeit und sähe Vergangenheit und Zukunft in einem – etwa so, wie ein Gelehrter die Seiten eines Buches betrachtet, das vor ihm auf dem Tisch liegt. Doch selbst Augustinus setzt Gott Grenzen; so glaubte er beispielsweise nicht, dass Gott die Vergangenheit ändern könne.«
Belisarius grunzte. »Es erscheint mir ketzerisch, Gott Grenzen zu setzen.«
»Mag sein. Unsere Freunde im Dorf würden allerdings ganz anders denken. Für sie sind wir Menschen in den Teppich aller Dinge verwoben, den Teppich der Zeit. Jedes künftige Ereignis erwächst aus allem, was gewesen ist. Der freie Wille existiert in gewissem Maße, aber nur im Rahmen des vorbestimmten Schicksals der Welt. In unseren germanischen Sprachen hat das Wort für ›weben‹ dieselbe Wurzel wie das für ›Glück‹: gewaef und gewif . Nur die Wyrd-Schwestern, die unaufhörlich an ihrem Teppich weben, besitzen größere Macht.« Er zwinkerte Belisarius zu. »In solch einer Welt sind Prophezeiungen in gewissem Sinn möglich, aber nur insoweit, wie man die Fortsetzung des Teppichmusters vage aus den vorhandenen Linienführungen der Fäden abschätzen kann. Kein Gott vermag die Zukunft zu sehen, nicht einmal Woden, denn die Zukunft
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