Eroberer
Insel zu fliehen, aber übers Wasser, in winzigen Fischerbooten voller Familien. Gudrid hätte sie nicht aufhalten können, selbst wenn sie es versucht hätte. Sie würden die Nachricht von dem Angriff mitnehmen, und der Schrecken würde wie Gift ins Festland sickern. Aber niemand versuchte, den von ihr bewachten Damm zu überqueren.
Nicht bis zum Ende des Tages.
Ein Mönch kam allein über die Landspitze auf den
Damm zu. Allein und unbewaffnet. Er zögerte, als er Gudrid sah. Dann setzte er sich mit schweren Schritten wieder in Bewegung, denn ihm blieb keine Wahl. Gudrid hob die schwere Axt auf die Schulter, bereit, sie zu schwingen, wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte. Aber konnte sie töten – selbst wenn es bedeutete, dass sonst sie getötet werden würde?
Der Mönch blieb zehn Schritte vor ihr stehen. Er war schlank, mit einem jungen Gesicht. Sein Haar und seine Tonsur waren mit Ruß und Blut beschmiert.
»Versuch nicht, an mir vorbeizukommen«, rief Gudrid. »Ich werde dich töten.«
»Du bist eine Frau «, sagte der Mönch. Er sprach mit starkem Akzent, aber seine Worte waren verständlich.
»Ich bin eine Frau, aber ich bin auch ein Wikinger und die Tochter von Bjarni, Sohn von Bjarni. Und ich töte dich, wenn es sein muss.«
Der Mönch wartete. Die Meeresvögel kreisten und schrien.
Vielleicht würde es genügen, wenn sie diesen Mönch ausraubte und am Leben ließ, dachte Gudrid spontan. »Was hast du bei dir?«
Der Mönch antwortete nicht.
Sie trat vor, die Axt im Anschlag, und begann, in der schweren Kutte des Mönchs zu wühlen. Die Wolle stank nach Schweiß. Sie fand nur eine Schriftrolle und nahm sie an sich.
Der Mönch seufzte. »Dann ist der Wille des Webers also geschehen. Genau wie Boniface gesagt hat .«
»Was?«
»Wenn du das schon nehmen musst, sollst du zumindest wissen, was es ist. Es ist eine Prophezeiung. Man nennt sie das Menologium der Isolde .«
Gudrid machte große Augen. War es möglich, dass ihr der Schatz, den sie gesucht hatte, die Triebkraft hinter der uralten Geschichte von Sulpicia und Ulf, nach all diesen Geschehnissen in die Hände gefallen war? Sie blickte auf die Schriftrolle, konnte aber natürlich kein Wort lesen.
Eine Schriftrolle würde ihren Vater jedoch garantiert nicht zufriedenstellen. Sie brauchte mehr. Vielleicht trug der Mönch ein Christenkreuz um den Hals; sie hatte Missionare mit solchen Schmuckstücken gesehen. Sie trat zu dem Mönch und zerrte an der Vorderseite seiner Kutte, bis diese zerriss.
Und zu ihrem Erstaunen kamen kleine Brüste zum Vorschein.
»Du bist eine Frau!«
Der Mönch – die Mönchin – zog die Kutte hoch. »Das ist eine lange Geschichte .«
»Wenn mein Vater dich erwischt, oder mein Ehemann …«
Sie wussten beide, was mit ihr geschehen würde, wie aufregend die Plünderer diese als Mann verkleidete Frau finden würden – und auf welche Weise man von ihr Gebrauch machen würde, bevor man sie in die Sklaverei verkaufte oder tötete.
»Du bist auch eine Frau, genau wie ich. Bei Gottes Barmherzigkeit, lass mich vorbei .«
Von Unschlüssigkeit gelähmt, hielt Gudrid ihre Axt in die Höhe. Dann trat sie steif zurück.
Die Mönchin setzte sich in Bewegung. Ihre Füße waren nackt, sah Gudrid, und hinterließen Abdrücke im weichen, feuchten Sand. Sie blieb bei Gudrid stehen. »Danke .«
Gudrid schüttelte wortlos den Kopf.
»Komm mit mir «, sagte die Mönchin plötzlich.
Gudrids Gedanken rasten. »Das täte ich liebend gern«, sagte sie. »Aber ich kann nicht. Mein Platz ist hier.«
Die Mönchin nickte. »Pass auf die Prophezeiung auf. Und nimm dich in Acht vor ihr .« Dann drehte sie sich um und ging weiter.
Gudrid schaute ihr nicht nach. Sie blieb an ihrem Platz auf der Landspitze und hielt Wache, bis die Sonne den Horizont im Westen berührte und ihr Vater sie suchen kam.
DRITTER TEIL
GELEHRTER 878–892 N. CHR.
I
Frohen Herzens traf Cynewulf an jenem kalten Januarabend endlich bei Alfreds Halle in Cippanhamm ein. Mit Aebbe an seiner Seite musste er sich in die Schlange der anderen Bittsteller am Tor einreihen, die von den Wachposten überprüft wurden, einem stämmigen Thegn und einer Hand voll Krieger mit harten Zügen. Das Gut des Königs lag abseits des Dorfes, und die Halle und ihre Nebengebäude wurden durch eine eigene Palisade geschützt, deren Pfähle mit grausamen Widerhaken versehen waren.
Der Himmel war klar, und die Sonne stand tief. Es gab keinen Schnee, aber der Mittwinterfrost machte
Weitere Kostenlose Bücher