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Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
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hinsieht; sie würde noch da sein, wenn es ihn schon längst nicht mehr gäbe, das stand von Anfang an fest (Zeilen eines Gedichts anlässlich ihrer Geburt: Mädchenleis Dein erstes Klagen, wagte nicht, Dich anzuheben / Nur einen Kuss erbat ich dann, aus Deiner Augen Ferne kam: Werd lang Dich überleben!).

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    In dem zweiten Päckchen aus Berlin lag zwischen den Büchern auch eine selbstgebrannte CD mit der Musik, die M. bis zuletzt gehört hatte. Sie war eingeschlagen in einen Artikel über den Interpreten und sein neues Album aus der Berliner Zeitung vom 29. und 30. Januar 2005, also Wochenendbeilage, mit M.s Strichen und Ausrufezeichen neben allem, was ihn bewegt hat an dem Sänger – ein Mann von monströser Figur, der nur einen Vornamen hat, Antony, und wie eine zierliche Frau singt, die Frau, die er gern wäre. Kaum für die Dauer eines Liedes erträgt der Empfänger des Päckchens und der CD diesen Gesang im Moment – Singen als verzweifeltes Küssen- und ebenso verzweifeltes Trinkenwollen, so stillend wie dürstend. Was ich gerade abbreche – um es vielleicht später zu hören, im richtigen Augenblick –, war nichts als schön oder anbetungswürdig für einen, der sein Leben mit Sprache bestreitet, bedrohlich lähmend. Und vielleicht hat sich M. dieser Lähmung in seinen letzten Monaten ja ganz und gar überlassen (sein ewiges Rauchen: im Übrigen auch Küssen und Trinken in einem, so stillend wie dürstend). Also eine andere Musik, Dvorˇáks Konzert für Cello und Orchester, h-Moll, das ich immer höre, wenn’s darum geht, alten Wunden, die aufzugehen drohen oder schon aufgegangen sind, etwas nachzugeben, damit sie sich wieder beruhigen.
    Und beim Zähneputzen, während die Musik noch lief, glaubte ich im weißen Waschbecken überall kleine schwarze Fliegen zu sehen, immer wieder Augenblicke lang überzeugt davon, dass es sich um echte Fliegen handle, einen Schwarm, der sich über den ausgespuckten Schaum hermachte und sich auch nicht durch Wischen und Spülen vertreiben ließ, im Gegenteil: Die Fliegen schienen immer dreister zu werden, sie liefen mir über die Finger und den Griff der Zahnbürste, sie saßen auf den Borsten oder kamen zwischen den Borsten hervor, um erst im letzten Moment, wenn die Bürste zum Mund geführt wurde, das Weite zu suchen; und der Zähneputzende dachte an die Filme der Surrealisten, die noch an Träume geglaubt hatten und womöglich auch nur unter Makula-Problemen litten und und das Hin und Her der Glaskörperchen in den Augen mit einem Drama zu verwechseln bereit waren, so wie M. die eigene innere Unruhe als Unruhe der ganzen Welt oder mindestens seiner Umgebung gesehen hat.
    Montag, erster Mai, Agonie des Feiertags, die von den stillen Straßen bis in den neunten Stock dringt. M. hatte bevorzugt an solchen Nichttagen angerufen, auch schon in der Zeit, als er noch als Unfallarzt durch Berlin fuhr; sein liebster Vorwand war, nach irgendeinem Buchtitel zu fragen und dann von einer Schussverletzung zu erzählen, die er gerade versorgt haben wollte. Sein Augenmerk lag dabei mehr auf der Situation als der Verletzung, er sprach nicht als Arzt, er sprach als Reporter. Und dann konnte er einen Sprung machen zu einem Foto aus seinem Archiv, das wie eine weiterführende Vertauschung der versorgten Wunde war, hin zu einem bestimmten Stück Weiblichkeit – einem Nacken, einem Mund, einer Achsel –, von dem er so eindringlich erzählte, bis auch ich es vor Augen hatte und er seinen Blick für eine bestimmte Wunde der Schönheit mit meinem abgleichen konnte. Unser Spiel hieß nicht: Ich sehe was, was du nicht siehst, es hieß: Ich sehe etwas, das du auch gleich sehen wirst, als könnten zwei schiefe Blicke einen geraden ergeben.
    Etwa ein halbes Jahr nach dem Fall der Mauer, in der Zeit der noch wilden Vermischung von Ost und West, als für Leute wie M. der innere Stadtplan von Berlin neu geschrieben wurde, rief er mich einmal nachts an und erzählte von einem der Clubs, die es gestern noch nicht gegeben hatte und morgen schon nicht mehr geben würde. Er sprach von diesem namenlosen Club wie von einer Frau, die so facettenreich war, dass man sich nur ein Detail herauspicken konnte, um ihr überhaupt irgendwie nahezukommen. Und dieses Detail war ein junges, struppiges, aus dem schönen und biederen Konstanz nach Berlin abgehauenes Mädchen – wenn man ihm glauben wollte, und ich wollte es in dieser Nacht –, ein Mädchen, das er mitten im Ost-West-Gewühl buchstäblich aufgegabelt

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