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Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
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Alben noch heute gleich zu erkennen ist. Auf die innere Umschlagseite hatte er eine Widmung geschrieben (eine der zwei Widmungen, die ich bekam): »Zur Erinnerung an manch harte Tage und seltene Siege, M.« Ich liebte dieses Album vor allem wegen einer Nummer, Sing, Sing, Sing , und der Höhepunkt darin war das minutenlange Schlagzeugsolo von Gene Krupa, am Ende wie der Wirbel meines Herzens, wenn M. und ich wieder einmal kurz davor waren, das gegenseitig über uns verhängte Schweigen zu brechen, ein Wirbel zwischen Euphorie und dem Aussetzen des Herzschlags, ehe die ersten Töne, gleich den Stößen aus Harry James’ Trompete nach dem Krupa-Solo, die Rückkehr in den Takt unserer Freundschaft verkündeten. Und die alte Plattenhülle, die Schrift auf rotem und hellgelbem Grund, neben Goodman mit Klarinette und jüdischfreundlichem Blick durch seine Brille, gibt mir das Bild zurück, wie M. eine Platte vorsichtig aus ihrer Hülle zieht und von Staub befreit, bevor er sie auflegt, im Mund bereits die Zigarette, um sie mit dem ersten Ton anzustecken, den Kopf leicht gebeugt, als gehöre die feuergebende Hand einem anderen, weil sonst kein anderer in diesem Moment existierte. Das Auflegen einer Platte konnte für ihn ein Sakrament sein, und am Schluss wurde dem geduldigen Messdiener der Kelch in Form eines seltenen Albums überreicht.
    Leichte Sorge im Hinblick auf die Venedig-Tour, da ich mit U. sonst kein Schlafzimmer teile und auch nie geteilt habe, ein Geheimnis unseres langen Zusammenseins (unverwandte, aber sich nahestehende Geister). Wie wird das also heute Abend? Zwei Zimmer wären zu viel des Guten, auch wenn der Impresario sich alles andere als lumpen lässt – »Für einen Großherzigen«, heißt die Überschrift der Geburtstagsrede, die zuletzt in den Koffer kommt, oder fast zuletzt; beim Verlassen des Hauses finden sich im Briefkasten die Fahnen eines neuen Buchs ( Die kleine Garbo ), und im Taxi gleich der erste Blick auf die letzte Seite. Und schon ist da ein Wort, das weg muss. Altes Fahnenleid: Noch kann man etwas tun, nur gehören einem die eigenen Sätze schon nicht mehr ganz, wie ein volljährig gewordenes Kind.
    Am Flughafen treffen wir I. L., schon mit Teilen der umfangreichen Verwandtschaft des Jubilars. Sie gibt uns das Gefühl, mit dieser Dreitagereise etwas Richtiges, ja Gerechtes zu tun, auf dem Boden der Tatsachen und dem Boden des Menschlichen (wo kommt man am angenehmsten zusammen, wenn man sechzig wird, wie kommt man am angenehmsten dort hin), dem Boden, den ihr Mann so gern in einen Teppich verwandelt. Und sie gibt uns das Gefühl, in der jüdischen Verwandtschaft willkommen zu sein. Während des Fluges Fahnenkorrektur; U. sitzt zwei Reihen weiter, als hätte der Computer unseren Lebensverhältnissen Rechnung getragen. Und schließlich Italien: Schon im Anflug diese nicht kleinzukriegende Schönheit eines Stadtbilds, stärker als aller Firlefanz des Heutigen, der bei uns so leichtes Spiel hat, ohne die Kraft der Gemäuer (die einen Handy-Laden gleichsam schluckt), ohne den Sog der alten Cafés und die Zeremonien ihrer erwachsenen Kellner, die etwa in unbeobachteten Augenblicken mit einem in der Hand verborgenen Kämmchen ihr lichtes Haar am Hinterkopf zusammenfegen oder im Freien den Bon mit dem Unterteller beschweren, gegen den Wind und für die Guardia Finanza.
    M. hatte mich und andere oft auf solche Miniaturschauspiele hingewiesen, gar nicht immer mit Worten, manchmal nur durch ein Kopfrucken oder Lächeln in Richtung des kleinen Geschehens, das für ein größeres stand, zum Beispiel während unseres Besuchs der Etrusker-Gräber von Tarquinia. Diese unterirdischen Reiche waren damals noch nicht allgemein zugänglich, uns standen sie nur offen durch eine Mitschülerin, deren Vater in Rom für die Vereinten Nationen tätig war (und auf dessen Terrasse wir auch gefrühstückt hatten). Und als wir mit den Apothekertöchtern vor den Wandmalereien standen, die den erotischen Horizont der Etrusker abstecken, sah ich, wie M. mir ein Zeichen gab, das einer Geste unseres italienischen Führers galt, eines schon älteren Herrn, der sich die Brille ins volle Haar schob, um eine bestimmte Darstellung im Detail zu studieren oder wie eine kleine Schrift besser lesen zu können. Es war eine Geste, die ich seinerzeit, unter der Erde Etruriens, zum ersten Mal sah, und die heute, gehandhabt mit Sonnenbrillen, gewissermaßen zum Weltstandard gehört. M. hatte sofort die lässige Eleganz dieser

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