Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
Vom Netzwerk:
abgedunkelten Räumen der Praxis immer eine leise, problematische Musik läuft, heute Schuberts Sinfonie Nummer drei in D-Dur (im Wartezimmer jeweils ein Hinweis auf das Programm). Der Arzt, mit modischer Brille, trinkt den Tee, als sei es Winter, und stellt prophylaktisch eine Überweisung an die Augenklink Höchst aus, um dann schon wieder von der Gesundheitsreform anzufangen, mit einem versteckten Lächeln, das der Patient trotz Verdunklung erkennt, eine Ermutigung, was sein Augenlicht betrifft. Und folglich landet die Überweisung, kaum ist er im Freien, eine Hand über der Sonnenbrille, so schmerzt jede Helligkeit in den Riesenpupillen, im nächsten Abfallkorb. Mehr ein Torkeln als Gehen, nur den Schatten suchend, während von der Fanmeile schon Vorjubellärm zu hören ist: für das geschärfte Ohr des Sehbehinderten etwas anders geartet als bei den Malen zuvor – eher macht man sich Mut, als schon den Sieg zu feiern.
    Der halbdunkle Raum, das versteckte Lächeln, die modische Brille – und auf einmal war da, im Gehen, ein Bild aus den Anfängen mit M., der eigentlich in jungen Jahren eine Brille getragen hat, eine, die nur bei Gelegenheit auftauchte: das Bild seines Blicks durch die Gläser, mit dem Ausdruck des Arztes, der es bedauert, nichts mehr für einen tun zu können. Sie war schwarz und damals schon elegant schmal, diese Gelegenheitsbrille mit dem teuersten Schliff; M.s Augenleiden war so exquisit wie die Musik von seinem kleinen Tonband, angeblich sah er in einem bestimmten halbnahen Bereich so gut wie nichts. Dennoch trug er die Brille nicht immer, als sei auch das Leiden nicht immer da, eine Waffe, die er nur bei gewissen Anlässen zückte; er war den Dingen dann näher und gleichzeitig weiter von allem entfernt.
    In einer Schülertoilette (der halbdunkle Raum?), der unteren Toilette des Schlossheims, mit dem Fenster im dritten Stock, an dem wir uns kennengelernt hatten, kam es einmal mit anderen zu einer Szene, die sich mit dieser Brille und M.s verstecktem Lächeln verbindet, der einzigen Szene dieser Art, die hierher gehört. Wir waren zu fünft – ein Leichtes, jeden Namen zu nennen –, und der Erzähler gab auch damals den Ton an; er hatte die Idee zu dieser Zusammenkunft, bei der es um einen intimen Vergleich ging, mit dem Lockmittel, dass der Sieger von jedem fünfzig Pfennig bekäme. Also war es auch an ihm, eine Vorgabe zu machen, keine einfache Sache bei vier kritischen Zeugen, und M. verteilte Zigaretten, um das Ganze zu entspannen. Nur der Erzähler ging leer aus, er sollte sich ja konzentrieren, solange M. den anderen Feuer gab, um dann seine besondere Brille aus einem besonderen Etui zu nehmen und aufzusetzen. Und ich werde nie den Geruch der hellgrünen Kugeln in den Urinalen dieser Toilette (wenn man das Schlossheim betrat, hinten links) vergessen, der so sehr an die Bemühungen erinnert, das zu Vergleichende auch im bestmöglichen Zustand zu zeigen, und das in der ewigen Kälte dieses heizkörperlosen Klos mit eisigen Holzdeckeln. Mehr recht als schlecht gelang das Bemühen schließlich, und G., der Mathematiker im Kreis, hatte die Aufgabe des Messens mit Hilfe von Zirkel und Lineal sowie der Zahl Pi, während M. auf einem Blatt Klopapier das Resultat festhielt. Den nächsten fiel die Sache dann leichter, das prinzipielle Gelingen war unter Beweis gestellt, die Reihenfolge ergab sich aus der Natur der Dinge; aber irgendwie war von Anfang an klar, dass M. der letzte wäre, und als er an die Reihe kam, setzte er die Brille ab, legte sie in das Etui zurück und sagte, das Ganze sei unwürdig. Dann verließ er den Raum, den inzwischen noch andere betreten hatten, mit der Folge, dass ein Gerede entstand und die Heimleitung von der Toilettenrunde Wind bekam. Jeder der Teilnehmer sollte daraufhin ins Dienstzimmer von Internatsleiter Müller, der sich seiner Vernehmungserfolge rühmte und den Beinamen Müller-Schmier hatte, und M. erreichte es, als Erster befragt zu werden. Er zog seine Brille auf und betrat das Zimmer im Parterre, und man hörte von innen ein Brüllen, das immer leiser wurde. Endlich kam M. wieder heraus, die Brille in der Hand, und die Geschichte war beigelegt. Er erzählte nicht viel, aber was in dem Zimmer passiert war, hatte mit seiner Brille zu tun, mit seinen Augen, mit seiner Intelligenz; angeblich konnte er glaubhaft machen, dass in der Toilette nur geredet wurde: dass es Worte gebe, die anderen wie Taten erschienen. Ganz sicher ist dagegen, dass er mir einige

Weitere Kostenlose Bücher