Eros und Asche
man sich erinnern wird wie an die hellen Tage einer Freundschaft, als man gemeinsam Siege davongetragen hat ohne einen Finger zu rühren.
M. war, wie ein guter Torwart, seinem Wesen nach immer auch ein Verhinderer. Er ging jahrzehntelang auf Menschenfang durchs Leben und hat dabei nie oder kaum einmal das Ganze gewollt, sondern immer nur eine Besonderheit, die das Ganze verhindert hat. Er wollte das so Scheue eines Lächelns, die Blässe einer Kniekehle, eine bestimmte Art, sich das Haar hinter die Ohren zu legen, nur mit den Daumen, oder die Asche von der Zigarette zu streifen durch eine sachte Drehung, wie nebenbei; ihm lag an gewissen Blicken des anderen, auch auf dessen eigene Blöße, vor allem beim Fotografiertwerden, an einem eleganten Umgang mit offenen Wunden. Und bei alldem hat er das Tor seiner selbst stets bewacht, das Spiel mit den Detailbällen aber angeheizt, aufgrund eines Talents, das eine unheilbare Krankheit war, eine Krankheit mit dem Namen Ich sehe die Sprache, auch Krankheit des befreundeten Autors.
Als wir uns zwei Wochen nach den Anrufen aus Havanna in Berlin zum letzten Mal sahen, da fragte er schon im Auto – er hatte mich am Bahnhof abgeholt –, was die Kubanerin mit dem Kind genau gesagt habe, damit ich ihr folge, und kaum waren ihre holprig englischen Sätze wiederholt, war es, als hätte er ein Foto gesehen; auf die tatsächlichen Fotos, die beim Essen entstanden waren, warf er nur einen kurzen Blick, und dass wir an Ches altem Tisch gegessen hatten, rundete sein inneres Bild ab. Er fuhr mich zu meinem Hotel gegenüber vom Sony-Center, ich forderte ihn auf, mit aufs Zimmer zu kommen. Aber er wollte nicht, er wollte im Foyer eine rauchen, solange der Gast seine sieben Sachen nach oben brachte. Ich eilte mich, und als wir dann die Straße überquerten, um in das elende Schnellrestaurant zu gehen und unsere letzte Stunde schon keine ganze Stunde mehr war, packte er mitten auf der Fahrbahn plötzlich meinen Arm, weil ein schwarzer Regierungs-Audi heranschoss, ja zog mich sogar aus der Gefahrenzone – mit einem Lächeln, das kaum verlegener hätte sein können, als ich Danke sagte und dazu noch seinen Namen in den Mund nahm. Ein schöner und zugleich peinlicher Moment, mitten im Straßenverkehr, zwischen den Glas- und Stahlbauten auf dem einstigen Niemandsland (das wir auf unserer Berlin-Klassenfahrt, Oktober siebenundsechzig, von dem hölzernen Turm aus fotografiert hatten). Schön, weil zart; und peinlich, weil abgebrochen und letztlich sprachlos. Wer bin ich, wenn ich liebe (im weitesten Sinne)? M. hatte sich das wohl nie oder nur beim Zusammenstellen seiner intimen Collagen gefragt.
Ein Anruf von U., nach ihrem morgendlichen Blick in die Zeitung – Robert Gernhardt ist tot. In wenigen Tagen hätten wir ihn in Mainz auf dem privaten Sommerfest noch einmal treffen sollen – jetzt bleibt die Beerdigung (und man fragt sich, warum es nicht rechtzeitig zu einem Treffen kam; stattdessen nur Begegnungen im Park, zwei Paare und zwei Hunde, die Menschenblicke auf dem Spiel der Tiere). Und mittags in der Post ein Scheck von der Verwertungsgesellschaft Wort. Halbjährlich kommt dieser milde Regen, vor den großen Ferien und vor Weihnachten, den kritischen Zeiten für Kleinunternehmer, diesmal sind es 3.524 Euro, davon das allermeiste für Fernsehzeug, was doch mit Sprache kaum etwas zu tun hat, aber da fließt das Geld, während aus öffentlichen Bibliotheken höchstens Beträge kommen, die für eine warme Mahlzeit reichen. Es ist süß und bitter zugleich, diesen Scheck zu erhalten, und der Empfänger fährt sofort in die Stadt und kauft das schon entdeckte Regal mit einer Lade für Briefe und Fotos; es muss nur farblich noch etwas aufgearbeitet werden, hin zu einem Bernsteinton.
England–Portugal an der Seite von U., das Zuschauerpaar im Freien, Bier in der Hand, den Temperaturen ergeben. Es steht null zu null, wie in einer langen Ehe, man weiß schon, was zu tun ist, damit nichts passiert, nur passiert dadurch auch nichts; in der Zweiundsechzigsten muss Rooney immerhin den Platz verlassen, wegen eines Tritts. Und auch die Verlängerung bringt nichts, also wieder Elfmeterschießen und noch ein Bier – im erwartungsvollen Publikum Mick Jagger, ein bleiches Gespenst, das unserer verschleppten Jugend. England scheidet aus, erneuter Schwenk auf die Logen. Beckhams Sohn popelt, seine frisösinnenhafte Mutter findet Trost bei einer anderen Spielerfrau, die ebenso aussieht. Anschließend die
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