Eros und Asche
zehn Prozent für zwei Tage! Dann sein Lachen, die Hand mit der Zigarette am Hinterkopf, während er schon weiter notiert und ich dasselbe tue.«
Und so ging das Tag für Tag oder Seite für Seite, für den einen immer mit dem Ziel, aus dem Schreiben ein Leben zu machen, für den anderen eher mit dem Ziel des Moments, wie ein weiteres Rauchen und sich mit Geheimnis umgeben. Das zweite der neun Hefte trägt die Aufschrift Berlin , die Notizen unserer Klassenfahrt Ende Oktober, und auf jeder Seite ist die Stadt, in der M. später versinken würde, schon als Fernziel erkennbar. »U-Bahnstation Kurfürstenstr., gegen Abend. M. will vor dem Errol-Garner-Konzert noch Bücher kaufen, angeblich kennt er einen Laden in der Nähe, aber woher soll er den kennen? Ich glaube ihm nicht, aber er geht jetzt wieder nach oben und bleibt nur kurz stehen, um sich eine anzustecken, halb zu mir gedreht, damit ich sehe, wie er den Kopf etwas schräg hält und dabei neigt, um an die Flamme seines mit der anderen Hand vor einem Wind, der gar nicht bläst, geschützten Feuerzeugs zu kommen, als würde er nicht sich, sondern einem Fremden Feuer geben. Was für Bücher? rufe ich, und er verschwindet, wohl nur um zu rauchen und dann die nächste U-Bahn zu nehmen.«
Ein schon krampfhaftes Festhalten aller Kleinigkeiten in unserer eheähnlichen Verbindung, ein ständiges leichtes Misstrauen, ein ständiger leichter Neid, und in gewissen Abständen auch eine Bilanz, wie in der Nacht vom 25. zum 26. November (Heft Nummer drei), nachdem M. und ich am Ende des samstagabendlichen Feierns in der Garderobe unter dem Speisesaal zusammen getanzt hatten, zu dem französischen Lied von seinem tragbaren Tonband, während die Schulband schon abbaute. »Seltsame Sache vorhin: M. und ich haben unten im AD-Saal getanzt, zu Adamo. Auf einmal lief das Lied, das er abends oft als letztes hört, bei der letzten Zigarette, Notre Roman, und irgendwie ging es los. Wir standen hinten in der Garderobe, neben den Bierkästen, und er breitete die Arme aus, wie um zu dirigieren, was er ja gern macht, aber dann landeten die Hände auf meinen Schultern, zack-zack, und meine auch gleich auf seinen, und wir schwankten herum, muß man sagen. Er machte sogar die Augen zu und griff mir um den Nacken, so tanzten wir bis Schluß war. Und jetzt liest er, während ich schreibe, und macht wieder, daß ich nicht sehen kann, was er liest, ich glaube, irgendwas über Trotzki, er benützt immer noch den Einband, den er auch um das Malcolm-X-Buch hatte, die ewige Geheimnistuerei. Keiner darf mehr wissen als er. Und vielleicht hat er gemerkt, daß ich einmal beim Tanzen die Augen aufgemacht habe, um zu sehen, ob er mich ansieht, und ist befremdet, wie er immer sagt. Oder ärgert sich, weil ich noch schreibe, während er nur liest. Ich hasse ihn, wenn ich so warte, dass er etwas sagt. Jetzt legt er das Buch weg, jetzt drückt er die Zigarette aus; gleich kommt der Schlag auf den Lampenknopf.«
Und das letzte der neun Hefte endet am 24. März 1968, einem Sonntag, die Schlusssätze lauten: »Dem guten M. habe ich in den vergangenen Tagen wiederholt Geld geliehen, obwohl er doch viel mehr als ich in der Hinterhand hat, mal war es eine Mark, mal zwei Mark, mal fünfzig Pfennig. Ich verlange das Geld nicht zurück, ich verlange gar nichts von ihm, er hat es mit sich schwer genug, er kann nicht sanft sein, er kann nur so tun, wenn er mir zunickt oder sagt, Halt die Ohren steif, oder mir Feuer gibt: Das kann er besser als jeder Sanfte, mit einer Hand die Flamme schützend, während sie meine leicht hinzuzieht. Und am Zauberberg lese ich immer noch, wegen Naphta, von dem er dauernd erzählt, über den wollten wir reden, man wird sehen.«
An diesem Punkt reißen die Notizen ab, als sei etwas vorgefallen, ein Ende, obwohl erst die dritte Seite des letzten Heftes erreicht ist. Alle übrigen Seiten sind leer, aber zwischen zwei der leeren Seiten fand sich ein Foto (das nur noch in der Erinnerung existiert hatte, mit einer Suchaktion niemals zu finden). Ein kleines Foto, neun mal neun, seine Farben durch die Lagerung zwischen Heftseiten gut erhalten. Es zeigt zwei junge, braungebrannte Müßiggänger am Pool eines schlossartigen Hotels (dem Taoro-Park auf Teneriffa, das es längst nicht mehr gibt). Sie lachen beide, jeder auf seine Art, der eine sichelförmig und mit leicht offenem Mund, der andere eher verschmitzt. Der Linke, vom Betrachter aus, stützt sich mit durchgedrückten Armen auf die
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