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Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
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Parteivorsitzende, mit sicherem Gespür für jeden, der sich Notizen macht über ihn, sein verständnisvollstes Lächeln zeigte für diesen Ausbruch an Jugend drei Tische weiter.
    Spät nachts in der Stille der Wohnung, die auch die Stille der Stadt ist nach dem Fußballaus, das erste Aufstellen einiger der Bücher, die M. mit so leisem Nachdruck genannt hatte. Chamisso, Der Mann ohne Schatten ; Dostojewski, Erniedrigte Aufzeichnungen ; Schlegel, Lucinde; Stifter, Der Nachsommer ; Jünger, Eumeswil ; Walter Flex, Wanderer zwischen zwei Welten ; Ernst Wiechert, Wälder und Menschen ; Klabund, Die Himmelsleiter ; Horaz, Oden und Epoden; Marc Aurel, Selbstbetrachtungen sowie eine vergilbte Werther -Ausgabe von Reclam, das Exemplar, auf dessen Rückseite unser letzter Stundenplan steht (Mo., Engl.-Engl., Geschi., Dtsch, Sport – kein so schlechter Wochenanfang, der Dienstag dafür schon trostlos, zweimal Mathe, dann Latein, später Bio). Und auf der hinteren Innenseite ein paar M.’sche Zeilen, die mich glauben lassen, er hätte damals doch mit mir um die Wette linierte Hefte gefüllt. Seine Schrift ist kaum zu lesen, wie ein Geheimhalten vor aller Welt, auch vor sich selbst, aber wenn man das wenige Lesbare großzügig ergänzt, dann steht dort »Werther ist kläglich, weil er nicht merkt, wie kläglich er ist, obwohl er plant, sich umzubringen. Er geht zu Recht drauf, ihm war nicht zu helfen.«

26
    M.’s Hefte waren keine Erfindung, ich habe sie jeden Abend gesehen; denkbar aber, dass es über Jahre dasselbe Heft war, dessen Seiten er, auf dem Bett stets zur Wand gedreht, füllte oder zu füllen schien, mit langen Pausen zwischen den einzelnen Sätzen und vielleicht auch nur Stichworten. Ich schrieb wie wild, und er versuchte mitzuhalten. Und hätte ich nicht wie wild geschrieben, wäre das unter Umständen sein Part gewesen, man weiß es nicht; wären wir uns aber nie begegnet, hätte er womöglich gar nichts geschrieben. Nur sind wir uns begegnet, und für den einen war es das Natürlichste der Welt aufzuschreiben, was ihm durch den Kopf ging oder das Herz schwer machte; es geschah einfach, wie er sich in einem fort Zigaretten ansteckte. Hat also mein Schreiben sein Schreiben, auch wenn es irgendwie stattfand, verhindert? Ebenfalls denkbar. Aber ob es so war oder nicht: M. kam zu seinem harten Urteil über das, was in den Heften stand (dem Urteil, das bekanntlich auch Kafka über das eigene Schreiben hatte). Folglich verbrannte er dieses Tagebuch, das auch seine Reaktion auf meine Hefte war, die seit damals in einem Karton ruhen, verstaut in der untersten Lade eines Schranks für aufgegebene Drehbücher und Ähnliches. Und mehr bang als irgendwie feierlich wird diese Verschlusssache endlich geöffnet.
    Neun sogenannte Große Schulhefte, liniert und ohne Rand, das Stück zu 80 Pf. , wie noch mit Bleistift auf dem Etikett steht, kaum verblasst, liegen da nebeneinander auf dem Tisch, und jedes, mit Ausnahme des abschließenden, voller Einträge (gleich ein hastiges Blättern, voller Sorge, widerlegt zu werden). Es sind die Tagebuchhefte der zwei letzten Internatsjahre, siebenundsechzig, achtundsechzig, nur in diesem Zeitraum haben M. und ich abends im Bett Notizen im Wettstreit gemacht. Beide zogen wir das Heft dem Freund vor, jeder in seiner Trauer um den anderen, der selber trauert, und beim etwas genaueren Blättern in Heft Nummer eins, Oktober siebenundsechzig, findet sich dazu auch schnell eine Stelle. »Donnerstag, 5. 10., abends. M. auf dem Bett, er näht einen Knopf an. Gleichzeitig notiert er auch etwas, wobei nicht klar wird, ob das Nähen oder das Schreiben Nebensache ist; er läßt einen bewußt im Unklaren. Während er näht, hat er die Zigarette im Mund, beim Notieren hält er sie in der Hand und bläst ganz langsam den Rauch aus. Wir hören seinen Fahrstuhl-zum-Schafott-Jazz, und wie immer hält er geheim, was da genau vom Tonband kommt. Er will einem das Gefühl geben, unendliche Vorräte an solcher Musik zu besitzen und nur ganz wichtige Sachen in sein Heft zu schreiben. Du schuldest mir noch drei Mark, sage ich, und er näht einfach weiter an dem neuen Hemd mit den feinen blauen Streifen, das plötzlich aufgetaucht ist, als hätte er nichts damit zu tun, und vielleicht näht er den Knopf nur an, um zu zeigen, daß er auch mit diesem Hemd auf seiten der Werktätigen steht. Warum können wir abends nicht reden, warum müssen wir auf den Betten sitzen und schreiben? Rechne mir die Zinsen aus, sagt er,

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