Eros und Asche
M. bereits das Gefühl, dass solche Feste nicht der Anfang unendlich besserer Feste zu späterer Zeit waren, sondern ein früher Höhepunkt – besser werde es nicht, war sein üblicher Satz nach solchen Geburtstagen und anderen Nächten mit Qualm und Musik. Und in der Nacht von Ravello, er Mitte zwanzig, schon die Bemerkung, dass überhaupt alle unguten Ahnungen der Jugendjahre im Laufe des Lebens zur Gewissheit würden. Träume, die man gehabt hätte, platzten still, Ehen scheiterten oder es käme erst gar nicht soweit; und körperlich gehe es sowieso verlässlich bergab. Nur mit der Freude am Kleinen, die nach und nach größer wird, hatte er damals nicht gerechnet, Freude an einem Sommermorgen im Wald, Freude beim Zirpen einer Grille, tief in der Nacht, oder dem Blick auf eine dunkle Seescheibe. M. hatte bei unserem Schlusstelefonat um eine genaue Beschreibung dieses Blicks gebeten, und die eine Liebe zum Detail traf sich mit der anderen; immer wieder seine Fragen, bis er im Bilde war (ich sehe etwas, das du auch gleich sehen wirst) und neben mir auf dem Hausdach zu sitzen schien. Und zum Dank ein Buchtipp, Palinurus, Das ruhelose Grab . Lies den Anfang, sagte er, und du schreibst nie wieder Drehbücher (seitdem auch nicht mehr geschehen).
Nach den Geburtstagsanrufen ein In-Reihe-Legen der letzten Fotos von M., die an seinem See entstanden sind, darunter nur eins ohne Sonnenbrille – dicht neben ein eigenes Foto gelegt (aus einer Serie für den letzten Buchumschlag). Ein ernster Frühgreis, im Gesicht ein herrenloses Zuviel, das die verschiedensten Vermutungen zulässt, von dem erwähnten Astronomen über einen vergessenen Filmstar (Nouvelle vague), bis zu dem Schriftsteller, der sich und sein Werk hinter einem Pseudonym versteckt; und ein ernster Spätling, nicht mehr jung und noch nicht alt, eher etwas altersdiffus, abgesehen vom weißen Haar. Ein langes Betrachten beider Fotos (auch der erste Versuch einer Beschreibung, die zu lang wurde); eine der Stunden, in denen sich das Herz gegen seine ewige Mitarbeit zur Wehr setzt, als wortlose Warnung. Und am Abend die guten Wünsche und kleinen Geschenke der Familie – eine Kühltasche für das Boot, zwei alte Bücherstützen, immer zu gebrauchen, und vom Sohn ein Kabel, um einen iPod mit der neuen Anlage im Boot verbinden zu können, sowie seinen jüngsten Beitrag zum Kunstunterricht, den er sonst wegwerfen würde, wie er wegwerfend sagt, so, dass der Vater die Gabe kaum annehmen kann, worauf der Sohn sie zerknüllt und in den Müll wirft, worauf der Beschenkte sie wieder herausholt und nun doch annimmt, aber da ist der Geber schon im Bad verschwunden. Und die Tochter, noch mitgenommen von der Beerdigung der Hundekursfreundin, schenkt ein Fotobuch zum Jahrgang achtundvierzig, damit dem Vater endgültig klar wird, wie hinterherhinkend er ist, auf ewig hinter dem Mond.
Das frisch gebeizte, aufpolierte Jugendstilregal ist eingetroffen, es hat schon seinen festen Platz, außerdem war das Päckchen mit M.s schwarzem Poesiealbum in der Post. Die Deckel sind aus graubrauner Pappe, die Seiten aus besserem Packpapier, und das Ganze hat die Größe eines Briefmarkenalbums, aber keinerlei Verwahrungscharakter – ein graubraunes Provisorium, als Cover das Foto einer aufgegebenen Apotheke. Und die Sammlung: scheinbar willkürlich auf jede Seite geklebte Fotos oder Erinnerungssplitter, vom Betrachter ebenso willkürlich (oder auch nicht) herausgegriffen. Amerikanische Polizisten mit Sonnenbrillen, dreimal ein perfekter Hintern, Rudi Dutschke beim Marsch durch Berlin mit aufgerissenem Mund, bei ihm eingehängt ein Junge wie M. einer war. Carl von Ossietzky mit KZ-Nummer vor einem seiner Peiniger, Joseph Roth als alter Trinker; Berlin in Schutt und Asche, eine Frau mit schimmerndem Telefonhörer zwischen den Beinen. Ezra Pound mit einem aufgeklebten Foto von Benn im Schoß, Jeanne Moreau und Luis Buñuel mit einem alten Fahrrad; Robert Mitchum im Unterhemd, Genet im Profil, zwei weitere Hintern. Der Gangster Vito Genovese, der junge Sartre; ein De-Chirico-Gemälde neben einer Karikatur: Hitler mit Schnupfen. Die Erschießung eines Deserteurs, Klaus Mann in obszöner Pose mit einem Freund, Brando im Letzten Tango . Ein abgetippter Auszug aus Roths Der stumme Prophet (»Denn es entspricht unserer Meinung nach einem enttäuschten Mann, sein Heimweh nach der Einsamkeit zu unterdrücken . . .« usw.), daneben ein Ausriss vom Pariser Metro-Netz rund um den Gare de l’Est und eine
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