Eros und Evolution
der Sinn eines Menschen für das, was schön und sexy ist, unterliege der jeweiligen Modenorm. Rubens hätte Twiggy nicht als Modell gewählt. Außerdem ist Schönheit schlicht und einfach relativ – wie jeder Strafgefangene wird bezeugen können, der einige Monate ohne den Anblick einer Angehörigen des anderen Geschlechts hat zubringen müssen.
Dennoch hat diese Flexibilität ihre Grenzen. Es ist unmöglich, einen Zeitpunkt zu benennen, zu dem Frauen von zehn oder vierzig Jahren als erotischer empfunden wurden als Frauen von zwanzig. Es ist undenkbar, daß ein männlicher Bierbauch jemals auf Frauen anziehend gewirkt haben könnte oder daß hochgewachsene Männer für häßlicher gehalten wurden als untersetzte. Ein fliehendes Kinn ist bestimmt von keinem Geschlecht jemals für schön erachtet worden. Wenn Schönheit eine Modefrage ist, weshalb waren dann Falten und graue Haare, behaarte Rücken und Bardolpho-Nasen nie »in«? Je mehr Dinge sich ändern, um so mehr bleiben sie gleich. Die berühmte Büste der Nofretete, angefertigt vor dreitausenddreihundert Jahren, wird von uns genauso als atemberaubend schön empfunden wie einst von Akhenaten, als er der echten Nofretete den Hof machte.
Übrigens werde ich in diesem Kapitel über die sexuelle Anziehungskraft nahezu ausschließlich weiße Europäer, insbesondere Nordeuropäer, als Beispiel heranziehen. Das hat nichts damit zu tun, daß ich damit die Schönheitsstandards weißer Europäer absolut setzen möchte, sondern nur damit, daß sie die einzigen sind, von denen ich genug weiß, um darüber schreiben zu können. Eine getrennte Untersuchung der Schönheitsstandards schwarzer, orientalischer oder anderer Völker würde den hier gesteckten Rahmen sprengen. Das Problem nämlich, um das es mir hauptsächlich geht, gilt ganz allgemein für alle Menschen: Sind die Maßstäbe der Schönheit Grillen der Kultur oder angeborene Instinkte? Was ist flexibel, was dauerhaft? Ich vertrete in diesem Kapitel die Ansicht, daß man nur dann der Mischung von Kultur und Instinkt wirklich auf die Spur kommen und verstehen kann, weshalb es Merkmale gibt, die der Mode unterworfen sind, und andere, die sich diesem Maßstab widersetzen, wenn man etwas über die Evolution sexueller Anziehungskraft weiß.
Die ersten Hinweise dazu ergeben sich aus der Betrachtung des Inzests.
Freud und die Inzesttabus
Nur sehr wenige Männer haben sexuelle Beziehungen zu ihren Schwestern. Caligula und Cesare Borgia waren berühmte Ausnahmen (zumindest wurde ihnen das nachgesagt). Noch weniger Männer haben sexuelle Beziehungen zu ihrer Mutter, obwohl Freud ihnen unterstellt, ein unstillbares Verlangen danach zu hegen. Weitaus häufiger dagegen werden Töchter von ihren Vätern sexuell mißbraucht – aber auch das geschieht immer noch relativ selten.
Vergleichen wir zwei Erklärungen für diese Tatsachen. Erstens: Menschen tragen ein geheimes Verlangen nach Inzest in sich, können dieses Verlangen jedoch mit Hilfe gesellschaftlicher Tabus und Regeln unterdrücken; zweitens: Menschen finden ihre nächsten Verwandten nicht übermäßig sexuell anziehend, das Tabu befindet sich in ihrem Kopf. Die erste Erklärung stammt von Sigmund Freud. Er vertritt den Standpunkt, daß die erste und intensivste sexuelle Anziehungskraft von dem jeweils andersgeschlechtlichen Elternteil ausgeübt wird. Deshalb, so erklärt er weiter, erlegen alle menschlichen Gesellschaften ihren Mitgliedern strikte und spezifische Inzesttabus auf. Ohne solche Tabus, so läßt er durchblicken, wären wir alle Nachkommen aus Familien, in denen es häufig Inzucht gegeben hätte, und litten unter genetisch bedingten Anomalien. 2
Freud ging von drei unbewiesenen Voraussetzungen aus. Erstens: Er setzte Anziehungskraft mit sexueller Anziehungskraft gleich. Eine Zweijährige mag ihren Vater lieben, das heißt aber nicht, daß sie ihn begehrt.
Zweitens: Er nahm unbewiesenermaßen an, Menschen hätten ein inzestuöses Verlangen. Freudianer behaupten, die Tatsache, daß nur wenige Menschen dieses Verlangen auslebten, sei Ausdruck einer »Unterdrückung dieses Verlangens« – was Freuds Argument unangreifbar macht.
Drittens: Er nahm an, gesellschaftliche Regeln bezüglich der Eheschließung zwischen Cousin und Cousine seien »Inzesttabus«. Bis vor nicht allzu langer Zeit hingen sowohl Wissenschaftler als auch Laien Freuds Überzeugung an, Gesetze, welche Ehen zwischen Cousin und Cousine verbieten, seien dazu da, Inzest und Inzucht zu
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