Eros und Evolution
gut wie kein Risiko dafür. 6 Weshalb also gibt es Tabus? Claude Lévi-Strauss ist Vater einer anderen Theorie, der Bündnistheorie, welche die Bedeutung von Frauen als Handelsware zwischen verschiedenen Stämmen hervorhebt, weshalb man nicht zulassen konnte, daß sie innerhalb des Stammes heirateten. Da sich die Anthropologen jedoch noch nie darauf haben einigen können, was Lévi-Strauss im einzelnen gemeint hat, ist es sehr schwer, seine Theorie zu überprüfen. Nancy Thornhill vertritt die These, die sogenannten Inzesttabus seien eigentlich von reichen Männern aufgestellte Heiratsregeln, die verhindern sollen, daß ihre Rivalen durch die Heirat mit Cousinen Wohlstand anhäufen. Sie haben ihrer Ansicht nach überhaupt nichts mit Inzest zu tun, sondern lediglich mit Macht 7
Wie man alten Buchfinken neue Tricks beibringt
Die Inzestgeschichte ist ein schönes Beispiel dafür, wie sehr Angeborenes und Erworbenes miteinander verwoben sind. Die Vermeidung von Inzest hat – wie oben ausgeführt – wahrscheinlich einen sozialen Ursprung. So gesehen spielt die Genetik dabei keine Rolle. Und doch hat die Sache mit Genetik zu tun, denn das Verhalten ist nicht erlernt: Es entwickelt sich im Gehirn von selbst. Der Instinkt, keine Kindheitsfreunde zu heiraten, ist angeboren, die Merkmale, an denen man diese Freunde erkennt, werden erlernt.
Eine der faszinierendsten Eigenschaften tierischer Gehirne ist die jugendliche Prägephase, in der etwas erlernt werden kann, was nicht wieder verlorengeht oder überdeckt wird. Konrad Lorenz machte die Entdeckung, daß Hühner- und Gänseküken auf den ersten beweglichen Gegenstand »geprägt« werden, der ihnen nach der Geburt begegnet – meist handelt es sich dabei um ihre Mutter, seltener um einen österreichischen Zoologen – und dem sie ab dann bevorzugt folgen. Wenige Stunden oder zwei Tage alte Küken aber werden nicht geprägt. Am empfänglichsten für eine Prägung sind sie im Alter zwischen dreizehn und sechzehn Stunden. Während dieser Zeit manifestiert sich das Bild der von ihnen bevorzugten Leitfigur in ihren Köpfen.
Dasselbe gilt, wenn ein Buchfink seinen Gesang erlernt. Falls er keinen anderen Buchfinken singen hört, wird er den typischen Gesang seiner Art niemals erlernen. Hört er keinen anderen Buchfinken, bis er ausgewachsen ist, lernt er den richtigen Gesang nie, sondern bringt einen kümmerlichen »Halbgesang« hervor. Auch wenn er im Alter von nur wenigen Tagen einen anderen Buchfinken hört, wird er den Gesang nicht erlernen. Nur dann, wenn die Begegnung während der Prägephase im Alter von zwei Wochen bis zu zwei Monaten stattfindet, wird er lernen, richtig zu singen; danach verändert er seinen Gesang durch Nachahmung nicht mehr. 8
Beim Menschen lassen sich ohne weiteres ebenfalls Beispiele für ein solches Lernen in bestimmten Phasen finden. Wenige Leute verändern ihren Akzent jenseits des Alters von etwa fünfundzwanzig Jahren, nicht einmal dann, wenn sie von den Vereinigten Staaten nach Großbritannien umziehen. Wechseln sie jedoch im Alter von zehn oder fünfzehn Jahren das Land, dann nehmen sie einen britischen Akzent rasch an. Sie verhalten sich damit genau wie Weißkehl-Ammerfinken, die mit dem »Dialekt« des Ortes singen, an dem sie sich im Alter von zwei Monaten befunden haben. 9 Ebenso sind Kinder in der Lage, sich fremde Sprachen sehr rasch durch den bloßen Umgang damit anzueignen, wohingegen Erwachsene sie mühsam erlernen müssen. Wir sind zwar keine Küken oder Buchfinken, aber auch wir haben bestimmte Phasen, in denen wir uns im Rahmen einer Anpassungsreaktion Vorlieben und Gewohnheiten aneignen, die sich später nur schwer verändern lassen.
Dieses Konzept des prägenden Lernens steht vermutlich auch hinter Westermarcks Inzest-Vermeidungsinstinkt. Wir sind sexuell desinteressiert gegenüber denen, mit denen wir während einer entscheidenden Phase unserer Entwicklung zusammen waren. Niemand weiß über diese Phase etwas Genaueres, doch läßt sich mit einer gewissen Berechtigung annehmen, daß sie irgendwann zwischen dem achten bis vierzehnten Lebensjahr, also in den Jahren vor dem Beginn der Pubertät liegt. Unser gesunder Menschenverstand sagt uns, daß auch die sexuelle Orientierung auf eine solche Weise festgelegt werden muß: Eine genetische Prädisposition (Veranlagung) trifft in einer kritischen Phase der Entwicklung auf entsprechende Vorbilder. Erinnern wir uns an das Schicksal des Buchfinkenjungen: Sechs Wochen lang ist es
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