Eros und Evolution
Zustand, wenn wir beginnen, uns fortzupflanzen, noch immer eher aussehen wie ein Baby. »Der Mensch wird unreifer geboren und bleibt länger unreif als jedes andere Tier«, schrieb Ashley Montague im Jahre 1961. 24
Für die Neotenie gibt es eine Fülle von Indizien. Beim Menschen brechen die Zähne in einer bestimmten Reihenfolge durch: die ersten Backenzähne (Molaren) im Alter von sechs Jahren, beim Schimpansen mit drei Jahren. Dieses Muster ist ein guter Indikator für alle anderen Dinge, denn die Zähne müssen zum richtigen Zeitpunkt des Kieferwachstums erscheinen. Holly Smith, Anthropologin an der University of Michigan, stellte bei vierundzwanzig Primatenarten eine enge Korrelation fest zwischen dem Zeitpunkt, an dem die ersten Molaren durchbrechen, und Parametern wie Körpergewicht, Schwangerschaftsdauer, Entwöhnungsalter, Geburtsdauer, Geschlechtsreife, Lebensdauer und vor allem der Gehirngröße. Aus den Gehirngrößen verschiedener fossiler Hominidenfunde konnte sie vorhersagen, daß Lucy (ähnlich wie Schimpansen) ihren ersten Molar mit drei Jahren bekommen haben mußte und daß sie etwa vierzig Jahre alt geworden war; ein durchschnittlicher Homo erectus müßte seinen ersten Molar mit etwa fünf Jahren bekommen haben und etwa zweiundfünfzig Jahre alt geworden sein. 25 Neotenie gibt es nicht nur beim Menschen. Man findet sie auch bei verschiedenen Haustieren, vor allem bei Hunden. Manche Hunde erlangen ihre Geschlechtsreife, während sie sich noch in einer frühen Phase der Wolfsentwicklung befinden: Sie haben kurze Schnauzen, Hängeohren und zeigen Verhaltensweisen, die auch Wolfswelpen eigen sind – Apportieren zum Beispiel. Andere sind in einem anderen Stadium stehengeblieben: Die Schnauze ist länger, die Ohren stehen halb aufrecht, und sie jagen, wie Münsterländer und andere Jagdhunde. Wieder andere, zum Beispiel Schäferhunde, haben das ganze Spektrum der Wolfsmerkmale in ihrem Jagd- und Angriffsverhalten entwickelt, besitzen lange Schnauzen und Stehohren. 26
Doch während Hunde wahrhaft neotene Merkmale zeigen, sich früh fortpflanzen und wie Wolfswelpen aussehen, ist dies bei Menschen anders. Sie sehen aus wie Affenjunge, aber sie pflanzen sich erst im fortgeschrittenen Alter fort. Diese Kombination von langsamer Änderung der Schädelform und langer Jugendphase bedeutet, daß sie als Erwachsene ein ungewöhnlich großes Gehirn für einen Affen haben. Der Mechanismus, der einen Affenmenschen in einen Menschen verwandelte, war eindeutig ein genetischer Schalter, der die Entwicklungsgeschwindigkeit drosselte. Stephen Jay Gould ist der Ansicht, daß wir, statt für solche Dinge wie die Entwicklung von Sprache nach adaptiven Erklärungen zu suchen, diese einfach als »zufällige«, wenngleich sehr nützliche Nebenprodukte der neoteniebedingten Gehirngröße sehen sollten.
Wenn etwas so Spektakuläres wie die Sprache als simples Nebenprodukt eines großen Gehirns in Zusammenhang mit gewissen kulturellen Voraussetzungen entstehen kann, dann enthebt uns dies spezifischer Erklärungen dafür, weshalb die Entwicklung eines größeren Gehirn notwendig war. 27
Dieses Argument geht von einer falschen Voraussetzung aus. Wie Chomsky und andere Wissenschaftler ausführlich haben zeigen können, ist die Sprache eine der höchstentwickelten Fertigkeiten überhaupt und weit davon entfernt, das Nebenprodukt eines großen Gehirns zu sein. Sie basiert auf einem hochspezifischen Mechanismus, der sich bei Kindern ohne weitere Instruktionen entwickelt. Sie bietet überdies augenfällige Evolutionsvorteile, wie sich bei genauerem Hinsehen unschwer erkennen läßt. Ohne den Trick der Herstellung von Bezügen (in Form von Nebensätzen) beispielsweise ist es unmöglich, auch nur die einfachste Geschichte zu erzählen. Um mit Steven Pinker und Paul Bloom zu sprechen: »Es ist ein großer Unterschied, ob man eine weit entfernt gelegene Gegend erreicht, indem man den Pfad vor dem großen Baum geht oder den Pfad, vor dem der große Baum steht. Es ist ein Unterschied, ob es in der Region Tiere gibt, die du essen kannst, oder Tiere, die dich essen können.« Die Fähigkeit, einen Bezug herzustellen, kann für einen Mann im Pleistozän durchaus zum Überleben oder zur Fortpflanzung beigetragen haben. Die Sprache, so Pinker und Bloom, »ist dem neuralen Kabelsystem als Reaktion auf das Bestehen eines Evolutionsdrucks aufgebürdet und durch diesen entsprechend geformt worden«. 28 Sie ist nicht schillerndes Nebenprodukt des
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