Eros und Evolution
Erwachsenen, eine sexuelle Beziehung zu jemandem einzugehen, mit dem er seine Kindheit verbracht hat – der Instinkt der Inzestvermeidung –, ist kein ausschließlich menschlicher Zug. Für solche Dinge benötigte Lucy ihr größeres Gehirn ebensowenig wie ein Hund.
Das einzige, was Lucy erspart blieb, war die Notwendigkeit, immer wieder von vorne anfangen zu müssen und in jeder Generation die Welt neu begreifen zu lernen. Doch weder die Regeln der Grammatik noch die Techniken, mittels deren man Trennlinien in einem Gesichtsfeld ausmacht, wurden ihr auf kulturellem Wege vermittelt. Auf diese Weise hätte man ihr vielleicht beibringen können, daß man sich vor Schlangen zu fürchten habe, aber warum das alles? Warum sollte Lucy nicht einfach mit der angeborenen Furcht vor Schlangen zur Welt gekommen sein? Für jemanden, der die Welt aus der evolutionsbiologischen Perspektive betrachtet, ist nicht einzusehen, weshalb wir das Lernen für so ungemein wertvoll erachten sollten. Wenn das Lernen in der Tat Instinkte ersetzte, statt sie zu verstärken und zu trainieren, dann verbrächten wir die Hälfte unseres Lebens damit, Dinge neu zu lernen, die Affen automatisch zu leisten oder zu erkennen vermochten – zum Beispiel zu wissen, daß ein treuloser Partner in der Lage ist, einen zu betrügen. Warum sollte man so etwas mühsam lernen müssen? Warum sollte der Baldwin-Effekt (vgl. S. 298) solches nicht lieber in einen Instinkt verwandeln und damit in der mühseligen Zeit des Heranwachsens ein bißchen Zeit einsparen? Müßte eine Fledermaus den Einsatz ihres Ultraschallsystems von den Eltern lernen, statt diese Fähigkeit einfach im Laufe ihres Heranwachsens zu entwickeln, oder müßte ein Kuckuck den Weg nach Afrika im Winter erst vermittelt bekommen, statt ihn zu »wissen«, bevor er aufbricht, dann gäbe es in jeder Generation weit mehr tote Fledermäuse und tote Kuckucks. Die Natur hat sich dafür entschieden, Fledermäuse mit einem Echolot auszustatten und Kuckucks mit einem Zugvogelinstinkt, denn dieser Weg ist weit effizienter als der des Lernens. Zweifellos lernen wir eine ganze Menge mehr als Fledermäuse und Kuckucks. Wir lernen Mathematik, ein Vokabular von zehntausend Wörtern und etwas über die Beschaffenheit des Verstandes anderer Leute. Aber wir sind dazu nur deshalb in der Lage, weil wir Instinkte dafür besitzen, solche Dinge zu lernen (Mathematik möglicherweise ausgenommen), und nicht deshalb, weil wir etwa weniger Instinkte besitzen als Fledermäuse und Kuckucks.
Der Mythos vom Werkzeugmacher
Bis Mitte der siebziger Jahre wurde die Frage, weshalb Menschen ein so großes Gehirn benötigen, eigentlich nur von Anthropologen und Archäologen gestellt, von denjenigen also, die sich mit Knochen und Werkzeugen früher Menschen befaßten. Ihre Antwort, im Jahr 1949 überzeugend dargelegt, in Kenneth Oakleys Buch Man the Toolmaker, lautete, der Mensch sei ein Hersteller und Verwender von Werkzeugen par excellence, und dies sei der Grund dafür, daß er ein so großes Gehirn entwickelt habe. Zieht man die im Laufe der Geschichte zunehmende Komplexität menschlicher Werkzeuge in Betracht, und bedenkt man die sprunghafte Zunahme der technischen Fertigkeiten unserer Ahnen, von der offenbar jede Zunahme der Schädelgröße begleitet war – vom Homo habilis zum Homo erectus, vom Homo erectus zum Homo sapiens, vom Neandertaler zum modernen Menschen –, so entbehrt dies nicht einer gewissen Logik. Aber diese Überlegungen sind in zweifacher Hinsicht nicht ganz unproblematisch. Erstens, weil man im Laufe der sechziger Jahre die Fähigkeit zur Werkzeugherstellung und -verwendung auch bei Tieren, insbesondere bei Schimpansen, entdeckte und damit der mehr oder weniger primitiven Werkzeugausstattung des Homo habilis einiges an Glanz nahm. Zweitens, weil es bei diesem Argument einen Haken gibt. Archäologen beschäftigen sich mit Steinwerkzeugen, denn diese bleiben erhalten. Ein Archäologe in einer Million Jahren wird unser Zeitalter als Betonzeitalter bezeichnen – und das mit einer gewissen Berechtigung; aber er wird vielleicht niemals etwas über Bücher, Zeitungen, Fernsehsendungen, die Bekleidungsindustrie, das Mineralölgeschäft und die Autoindustrie erfahren – von der auch die letzten Spuren dahingerostet sein werden. Vielleicht kommt er zu dem Schluß, unsere Zivilisation sei davon beherrscht gewesen, daß nackte Menschen Mann gegen Mann um Betonzitadellen kämpften. Vielleicht unterschied sich das
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