Eros
Menschen, vom Leben, genauer
gesagt: vom Kriegsverlauf verbittert und enttäuscht.
Es gab für unser Zimmer zwei Krankenschwestern, eine, Agnes, mochte
ich, die andere, Christa, war alt und zum Fürchten. Agnes betreute uns am Tag,
während Christa die Nachtschicht einläutete.
»Meine Herren? Hat wer noch was zu erledigen? Ansonsten Licht aus.
Geraucht wird hier nicht. Und wenn der junge Mann die Güte hätte, nicht noch
mal ins Bett zu pinkeln! Sonst müssen wir ihm Windeln anlegen.«
Diese miese alte Hexe! Ich war schließlich ganz neu in der Hölle. Es
gab jedoch auch Lichtblicke. Von Schwester Agnes mit einem warmen Waschlappen
abgerieben zu werden, war der Höhepunkt des Tages. Für alle Patienten. Jeder
bekam einen Ständer, bis auf Leutnant Krollmann, dem hatten sie das dazu Nötige
weggeschossen. Zwei Wochen lag ich in diesem Spital, Agnes tätschelte mich,
fragte, wie es mir ginge, die Flecken seien ja fast weg. Sie war eine lustige,
drahtige Person mit leicht berlinerischem Akzent. »Noch fünf Tage, dann kommste
raus.«
Es ging schneller. Am selben Tag wurde das Krankenhaus getroffen, am
dritten November. Alle Patienten wurden bei Alarm in den Keller verfrachtet,
aber das war nicht so einfach und benötigte mehr Zeit, als die Bomberverbände
uns zugestanden. Ich erinnere mich an Patienten, die um ihr Leben humpelten, an
Krüppel, die sich gegenseitig an die Wand schleuderten, nur um rechtzeitig in
den Keller zu gelangen. Ich betete. Nicht zur heiligen Maria. Zu Sofie voll der
Gnaden. Gebenedeit ist die Frucht deines Leibes. Ihr Bild schwebte leuchtend
über mir. Das Donnergrollen. Der östliche Neubauflügel des Spitals war komplett
zerstört. Vom Fenster im Erdgeschoß aus sah ich, was der Volksmund den Rasenden Gauleiter nannte – eine Art hölzerne Behelfstrambahn, sie kreischte um die Kurve, blieb
stehen, Menschen sprangen heraus, kauerten sich an die Häuserwände. Das Seufzen
und Schreien der Menschen im Keller. Und dann, nach dem Angriff, die stille,
fast stumpfsinnige Prozession der Patienten zurück in ihre Zimmer, soweit diese
noch vorhanden waren. Auf Bahren, mitten im Hauptflur, lagen die Getöteten.
Darunter, nebeneinander, Schwester Christa und Schwester Agnes. An diesem Tag
erfuhr ich, daß es Gott nicht gibt.
Ich wurde tags darauf als beinahe geheilt heimgeschickt, man benötigte die
verbliebenen Betten für dringendere Fälle. Das Telefonnetz funktionierte nicht.
Zu Fuß lief ich die drei Kilometer bis zum Eispalast.
Brandleichen lagen am Weg, manche sahen aus, als hätte man sie aus
Kohle ungeschickt geschnitzt. Stellen Sie sich vor: Ich hatte nie zuvor einen
Toten gesehen. Und doch muß man von Glück reden: Diese Toten ähnelten Mumien
ägyptischer Pharaonen aus einem Buch mit Schwarz-Weiß-Photographien. Es hätte
schlimmere Anblicke gegeben.
Mein Vater weinte vor Glück, als er mich sah. Sagte, er
habe mich lieb. Umarmt hat er mich aber nicht. Ich wurde, mit allem Komfort, in
mein Zimmer verbannt. Tags darauf flogen beinahe tausend Maschinen ihre
Angriffe über München. Wieder blieben wir verschont.
Was v. Brücken erzählte, stand in merkwürdigem Gegensatz
zu dem, wie er es erzählte. Seine Stimme blieb erstaunlich untermoduliert, fast leiernd,
ohne ihren Tonfall irgendeinem Sarkasmus oder einer tragischen Wendung durch
Ritardandi oder Lagenwechsel anzupassen. Dieser Verzicht auf Dramatisierung
erhöhte auf faszinierende Weise den Nimbus des Erzählten, verlieh ihm eine besonders
authentische Note. Zugleich litt meine Aufmerksamkeit, aber nicht etwa, weil
ich gelangweilt worden wäre, im Gegenteil, es war vielmehr so, als glitte ich
in einen Zustand der Trance ab, würde seine Worte mehr fühlen als hören.
Im Raum entstand ein irreales Moment, ein – vielleicht sogar
beabsichtigter – Verfremdungseffekt; ich bemerkte, wie er mich hin und wieder
musterte, sorgfältig, aber von der Seite, wie einen jemand im Zugabteil
beobachtet, der nicht aufdringlich sein will.
Ich ertappte mich manchmal dabei, daß ich nicht mehr zuhörte,
sondern nachdachte über den ungewöhnlich nicht akzentuierten Klang
eines Wortes.
Von Brücken schaltete das Tonband ab und forderte mich
auf, das Mittagessen mit ihm einzunehmen. Was wir dann auch taten, unter beinahe
klösterlichem Schweigen.
Nur einmal, nach der Suppe, stellte er mir eine Frage, nach dem
Werk, das ich gerade vorbereiten würde. Ich antwortete, recht vage, daß es eine
Art biographischer Roman sei, über den Komponisten
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