Eros
erfuhr erst später, welche Heldin sie gewesen sein muß, welch
ungeheure Selbstbeherrschung es ihr möglich machte, die Welt mit sich nicht zu
behelligen. Nicht einmal während der schlimmsten Migräneanfälle wurde sie laut,
sie schloss sich dann oben in ihrem Nähzimmer ein und weinte in ein Kissen.
Beim Abendessen hielt mir mein Vater die fällige Standpauke. Ich
weiß noch, daß im Eispalast damals alles etwas mysteriös und geisterhaft
wirkte. Es hatte diese neue Anweisung gegeben, daß stärkere Glühbirnen blau
angemalt werden sollten, um Bomberverbänden kein Lichtsignal zu geben.
Wahrscheinlich wurde die Order insgesamt wenig befolgt, aber unsere Familie
hatte eine gewisse Vorbildfunktion zu erfüllen. Der bläuliche Lichtschimmer
erzeugte eine schwer melancholische Stimmung, die uns alle, besonders meinen
Vater, während der folgenden Wochen nicht unbeeindruckt gelassen hat, gewiß
nicht.
»Von nun an wirst du dich nie mehr zu weit vom Haus entfernen,
verstanden?«
Ich versprach es ihm und behauptete, keinen Hunger zu haben. Wollte
die Lippen, mit denen ich Sofie geküßt hatte, nicht durch ein profanes
Wurstbrot entweihen. Ehrlich!
Die ganze Nacht lag ich mit offenen Augen im Bett. Es war das reine
Glück auf Erden. Ich hatte ein Geheimnis. Schob die Hände unter die Bettdecke
und zog sie gleich wieder zurück. Wollte meine Geliebte fortan nie mehr mit mir
selbst betrügen. Wie lange ich das ausgehalten habe, werden Sie fragen? Fünf
ganze Tage. Dann, am fünften Tag, so empfand ich es wenigstens, wurde ich für
mein gebrochenes Gelübde bestraft.
Meine Schwestern begegneten mir, oben im Flur, sahen mich an und
begannen zu schreien. Mein Gesicht spiegelte sich im Glas eines der
Familienfotos an der Wendeltreppe. Es war voll roter Flecken.
Mein Vater erfuhr es von meiner Mutter, als er wieder über seinen
seltsamen Skizzen brütete. Ich konnte, was im Wintergarten geredet wurde, durch
das Ofenrohr belauschen.
»Windpocken? Er hat die Windpocken?«
»Sie gehen gerade um. Ist doch nichts dabei.«
»Meinst du? Ich hatte noch keine Windpocken. Du?«
»Ja, als Kind …«
»Verdammt. Hoffentlich hat er niemanden angesteckt.«
Sie müssen den Anachronismus registrieren. Mein Vater hatte soeben verdammt gesagt. Das war für seine Verhältnisse unglaublich roher Wortschatz.
»Drei Wochen Bettruhe …«
»Drei Wochen Bettruhe! Verdammt!«
Ich hörte, wie er aufstand und im Wintergarten verzweifelt auf- und
abmarschierte.
»Es geht um zuviel! Ich kann den Besuch des Ministers auf keinen
Fall gefährden wegen einer … Kinderkrankheit! Alex muß in die Klinik. Er
verseucht ja sonst alles.«
»Knut, du bekommst für einen Jungen mit Windpocken heutzutage kein
Bett in einer Klinik.«
»Das überlasse mir! Wir sind schließlich immer noch wir .«
So begann ein reichlich absurdes Kapitel meiner Biographie. Stellen
Sie sich vor: Mein Vater schaffte es mit seinen Beziehungen und etlich Geld
tatsächlich, mich ins Krankenhaus des III Ordens in der Menzingerstraße in
Nymphenburg einzuliefern. Und da lag ich nun, in einem hohen, düster-kahlen
Spitalzimmer. Ein schwarz-messinggoldenes Kruzifix über jedem der fünf Betten.
Vier davon enthielten verwundete, verstümmelte erwachsene Männer. Eines
enthielt mich.
Ich hörte, daß die Windpocken unter anderem auch Sofie erwischt
hatten. Wer von uns beiden den anderen angesteckt hatte, blieb unklar. Aber
Sofie würde mich fortan hassen, daran gab es keinen Zweifel. Ich war in der
Hölle.
Mutter und die Papageien kamen mich besuchen. Zweimal die Woche.
Wobei die Papageien großen Abstand halten mußten.
»Dein Vater kann dich nicht besuchen kommen. Es tut ihm sehr leid,
aber er denkt, du verstehst das. Es ist für Deutschland.«
Unvergeßlich: Meine liebe Mutter am Krankenbett, dahinter die
Zwillinge, sie brachten mir Pudding, Kekse, Schokolade und ein selbstgemaltes
Bild mit. Das Bild eines Jungen mit dicken roten Flecken im Gesicht. Um mich
herum verwundete, traumatisierte Männer, die die ganze Zeit auf den Pudding und
die Kekse glotzten. Nur die Schokolade hab ich nicht hergeschenkt.
In jener Zeit hörte ich Dinge, die für mein Alter definitiv nicht
geeignet waren.
Dann
kamen wir an das Gehöft. Der Iwan war weg. Vom Spähtrupp hatten sie keinen am
Leben gelassen. Einem ham die die Eier abgeschnitten und ans Scheunentor
genagelt.
Solche Sachen. Manche Dinge erzählten die sich vielleicht nur, um
mich in Angst zu versetzen. Es waren rauhe, grobe
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