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Eros

Eros

Titel: Eros Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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unsere Familie. Ich habe
Deutschland geliebt.«
    Wissen Sie, was ich in diesem Moment dachte? Daß ich, wenn ich nur
schon sechzehn wäre, ein großer Held werden, dem Krieg noch eine entscheidende
Wende geben könnte, durch eine einzige, große, ganz unvorhersehbare Heldentat.
    Ende März wurden unsre Fabriken zum ersten Mal schwer getroffen. Die
Luftwarnung versagte völlig. Schneider kam ums Leben, ebenso vierzehn Arbeiter,
darunter Sofies Eltern. Sie hatten den Weg in den Bunker nicht rechtzeitig
geschafft, verbrannten auf halber Strecke.
    Ich trauerte, als seien es meine Eltern gewesen. So sehr dachte ich
mich in die Geliebte hinein. Meine künftigen Schwiegereltern tot. Wer würde
Sofie die Nachricht bringen? Überhaupt irgendjemand? Und plötzlich war da in
mir etwas, das nicht an einen Zufall glaubte. Von allen Beschäftigten
ausgerechnet Schneider und Sofies Eltern? Es war verrückt, ganz sicher, aber
ich begann in all dem Wahnsinn an eine Macht zu glauben, die nicht ganz so
blind wütete, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Anders gesagt,
von nun an existierte eine stille Übereinkunft zwischen mir und den waltenden
Mächten im Himmel. Ich betrat, einfach so, mit der Kühnheit des Gesegneten, die
Wohnung von Sofies Eltern, sah Sofies Porträtfoto an der Wand einer kärglichen,
schlecht geheizten Bude. Niemand hinderte mich. Ich weiß noch, daß ich Scham
empfand – und etwas wie … naja, nennen Sie es Dankbarkeit gegenüber den Toten.
Ich durchwühlte alle Schubladen. Fand von Sofie gesandte Postkarten. Endlich
wußte ich, wo sie untergebracht war. Keine hundertfünfzig Kilometer entfernt
von mir, in einem Allgäuer Dorf.
    Am selben Abend stellte ich Papa zur Rede.
    »Ich möchte aufs Land.«
    »Was?«
    »Ich will aufs Land geschickt werden.«
    Mein Vater, dumpf, fast unbeteiligt, schon kaum mehr von dieser
Welt: »Warum?«
    »Sofies Eltern sind tot.«
    »Sofie? Wer ist denn das?«
    »Sie lag mit uns im Luftschutzkeller. Die auf meinem Bett.«
    »Ah. Ja. Ich weiß.« Pause. »Du willst zu ihr?«
    »Ja.«
    »Du liebst sie am Ende gar?« Er fragte mich das mit einem fast
heiteren Ton, der mir Mut gab.
    »Ja, Papa.«
    »Es geht doch immer alles weiter. Das Leben rollt schamlos über
alles hinweg. Nicht wahr?«
    Ich verstand nicht, was er sagen wollte, und schwieg.
    »Geh auf dein Zimmer.«
    »Warum?«
    »Geh auf dein Zimmer!« Er rief es laut, er machte mir Angst.
    Mama brachte mir das Abendessen. Butterbrote mit Streifen
eingelegter Rote Bete. Bißchen sah es aus wie Blut. Mama strich über meinen
Kopf, es war eine zärtliche Berührung, nur mit den Fingerspitzen, ganz langsam,
sehr sachte, verträumt.
    »Warum? Warum muß ich hier bleiben? Was hab ich denn verbrochen?«
    Mama lächelte mich nachsichtig an. Ihre Haare waren über den Winter
ergraut, ihr Teint schien blasser denn je. Mit jedem Tag verlor sie an
Lebenskraft.
    »Ist eben, wie es ist. Wenn du selbst einmal Kinder haben wirst,
wirst du wissen, wie das ist. Vorher weiß man das nie. Jetzt schlaf.«
    Sie gab mir einen Kuß auf die Stirn, legte eine Marzipanpraline auf
meinen Nachttisch. Seltsam, wo ich zwischendurch doch schon Zähne geputzt
hatte. Das war nicht ihre Art, normalerweise.
    Sie ging, stieg ins Erdgeschoß hinab, und mich hielt nichts in
meinem Bett, ein ganz eigenartiges Gefühl überwältigte mich, wie soll man es
nennen? Gänsehaut am ganzen Körper. Angst. Eine pelzig-lähmende, bleischwere
Form von Angst, scheinbar ohne konkrete Ursache. Sollte ich hinunterschleichen?
Oh, ich war im Schleichen ein Meister geworden, hatte es perfektioniert, kannte
jede Stelle auf der Treppe, wo ein vorsichtiger Schritt das Holz nicht zu sehr
knarzen ließ. Ein Apatsche war ich. Ein deutscher Mescalero.
    Mein Vater saß im Plüschsessel, trank Rotwein. Irgendetwas stimmte
nicht. Die Lichtverhältnisse. Jemand mußte die blauen Glühlampen entfernt
haben. Der Eispalast war, zumindest im Erdgeschoß, hell erleuchtet. Ich glaubte
zuerst, Mama hätte das veranlaßt, aus Sorge um ihren Gatten, an dessen
allmählicher Gemütsverfinsterung sie dem blauen Licht eher als dem
Kriegsverlauf die Schuld gab. Es waren keine Dienstboten im Haus, wie nach
zwanzig Uhr üblich. Meine Mutter kniete am Boden, neben Papa, er streichelte
ihren Handrücken, sie seine Wangen. Sirenen heulten los. Aktuelle Luftgefahr.
Die beiden reagierten kaum. Mama meinte, seufzend, aber nicht wirklich
beunruhigt: »Ach je. Die Kinder sind doch grade eingeschlafen.«
    »Laß

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