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Eros

Eros

Titel: Eros Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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dauerte eine halbe Stunde, bis sich das Feuer über die
Treppen zum Dachstuhl hinauffraß. Ab und an hörte ich meinen Vater noch rufen.
Er rief meinen Namen. Der Eispalast glühte, mein Vater stand da, riß sich
Jackett und Hemd vom Leib, mein lieber Vater rief meinen Namen. Und ich schämte
mich so. Schämte mich, weil ich ein Lump war, ein ehrloser Wicht. Hier bin ich, dein
Sohn, nimm mich mit!
    Papa stand oben, an einem der Fenster, und begann zu schreien. Nicht
mehr meinen Namen, nein, nur noch einzelne Vokale. Und wie hätte ich zu ihm
gelangen sollen?
    Das alles war furchtbar – auch ein wenig komisch, grotesk ist wohl
eher das richtige Wort, zudem ich einmal lachen mußte. Hysterisch lachen mußte.
Ich hoffe, daß er rechtzeitig die Flasche austrank und nicht lebendig
verbrannte. Plötzlich geriet ich in eine ganz wehmütige Stimmung. Irgendwo da
drinnen ging er auf irgendeine Weise von mir fort – und hätte mich gern bei sich gehabt. Papa! rief ich, und wie als Antwort detonierte eine Bombe hinter der Villa, nur um
wenige Meter kein Volltreffer. Die Druckwelle schleuderte mich in den Schnee,
meine Haut war ganz heiß und feucht, ich dachte, es sei Blut, es war nur
Schweiß, und ich rannte. Rannte weit fort. Über ein freies, brachliegendes
Feld, in den Wald hinein. Sah nach oben. Dieses Himmelsinferno über den
Nadelwaldkronen. Sonderbar ergreifend. Das Ende der Welt, in einem Chaos aus
Blitzen und Geschützdonner. Da – der Teich, in dem sich schwach die Lichter des
Himmels spiegelten. Ich glaubte zu brennen, legte mich in den Schnee, tauchte
mein Gesicht ins Teichwasser, auf dem vereinzelt dünnes Eis trieb. Und da
schrie ich. Ins eisige Wasser hinein. In ein Schwarz hinein, wie ich mir
seither die Schwärze des Todes vorstelle, in jenem Moment, da der Tod von allen
Seiten das Licht erstürmt und es auslöscht, bis ein tiefes Wummern bleibt, der
letzte Rest des letzten Schreis. Die Ohnmacht war ganz nahe, sie schwebte über
meinem Haupt, sozusagen, ich warf mich herum, hob meinen Kopf aus dem Wasser,
gerade rechtzeitig, um nicht zu ersaufen, prompt schwappte das Schwarz über mir
zusammen.
    An die nächsten Stunden habe ich keinerlei Erinnerung. Endlich wurde
mir bewußt, wie sehr ich fror. Erste Morgendämmerung. Ich stapfte, durchnäßt,
die Hosen verkotet, einen Kiespfad entlang. Weinte. Leckte Tränen von den
Backen und schrie. Irgendwas. Fabrikgebäude. Sie kamen mir bekannt vor. Eine
Gruppe von Menschen in der Ferne. Gestalten in Ledermänteln. Ganz verschwommen,
unwirklich, wie Engel und Teufel in einem, die sich aus einer anderen Welt
herbequemt hatten, um – keine Ahnung, sie sangen, sie wippten, dunkelgraue
Schemen, ich brach zusammen.
    Beim Erwachen war mir heiß. Etliche schwere Wolldecken lagen auf mir
und darüber das Gesicht Keferlohers. Hinter dem Gesicht, fast sternenweit
entfernt, eine sehr gutmütige gelbe Lampe.
    »Ruhig. Es ist gut. Gut. Fische gehn nicht unter.« Dann wurde alles
wieder schwarz.
    Das war kein Schlaf, in den ich sank, das war ein Verweigern jedes
sinnlichen Reizes ohne überzeugenden Erfolg, das Geschehen um mich herum
verlagerte sich sozusagen in ein zweites Stockwerk der Wirklichkeit, durch die
Decke gedämpft, aber vorhanden. Mein Körper wollte schlafen und kämpfte gegen
einen Teufel in meinem Hirn, der das nicht zuließ. Was ich wahrnahm,
unterschied sich von einem Traum, kleidete sich jedoch in die Logik der Träume,
und das daraus entstehende Mischwerk suchte ich mit meinen Gedanken jeder Luft
zu berauben, wie man eine Brandstelle mit Wolldecken ersticken will.
    Es gab Streit. Das Flüstern wich Sätzen, die Ausrufezeichen
verlangten. Bilder flackerten auf, die meine Augen nicht festhalten konnten,
sie glitten weg, blieben an meinen Wimpern kleben, als Fragmente. Die Stimmen
tanzten durch meinen Kopf. Eine davon erkannte ich, es war jene von Lukian, der
rief:
    »Ich will aber nicht hierbleiben.«
    »Halt deinen Mund, Luki!«
    Nach und nach verbündeten sich die Fetzen der Wahrnehmung zu
sinnvollen Bildausschnitten, ich glaubte zu ersticken, Keferloher griff meine
Mundwinkel mit Daumen und Zeigefinger. Wahrscheinlich hatte ich erbrochen und
er pulte die Kotze aus meinem Mund, bevor ich mich daran verschluckte.
    »Alex? Verstehst du mich? Wir bringen dich in Sicherheit!«
    Das nächste Bild ist ganz anders gewesen, metallener, kälter, obwohl
hier sogar mehrere gutmütige Gelblampen schimmerten. Mein Magen fühlte sich warm
an, ich muß gegessen haben.

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