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Eros

Eros

Titel: Eros Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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Patienten leichte Übungen mit einem ledernen
Fußball absolvierten. Die Ärzte Dr. Schäfer und Dr. Fröhlich waren in eine
Unterhaltung vertieft.
    Dr. Schäfer: »Wenigstens haben wir jetzt maln Grundgesetz. Ich sage:
Bloß nicht neutral. Dann nämlich füttert uns keiner.«
    Dr. Fröhlich stimmt im Prinzip zu. Das Grundgesetz manifestiere die
Teilung, aber die Teilung sei nicht so schlimm. »Das Land muß sich teilen wie
eine Zelle, um zu wachsen.«
    »Ach? Das ist aber nicht sehr vaterländisch gedacht.«
    »Nein?«
    »Naja, vielleicht um die Ecke dann wieder doch.« (Dialog rekonstruiert.)
    Du Lügner hast mich all diese Arbeit machen lassen …
    Aus der Tür zum Haupttrakt tritt Patient A., vom Pfleger
an der Hand geführt. Pfleger P. hört das Gespräch und unterbricht es.
    »Doktor Schäfer? Ich hab ihn«, er deutet auf Patient A., »gefragt,
ob er auf den Hof möchte. Er sagte: ›Ja‹ .«
    Dr. Schäfer nimmt das nicht richtig ernst. »Ach?«
    Dr. Fröhlich: »Was ist mit dem?«
    Dr. Schäfer: »Debiler Stupor. Taub dazu. Vielleicht nicht völlig
taub.«
    Dr. Fröhlich: »Hmm.«
    Dr. Schäfer: »Normalerweise kommt er nie auf den Hof.«
    Dr. Fröhlich befiehlt dem Pfleger, er solle den Patienten doch mal
laufen lassen.
    Der Pfleger läßt A. los. A. geht ein paar Schritte auf den Fußball
zu. Betrachtet ihn. Die Fußballspieler nehmen den Ball an sich, zeigen ihm ihre
Zungen. A. sieht dem Ball hinterher.
    Dr. Schäfer: »Anfangs wies alles auf Kriegstrauma hin. Totalamnesie.
Aber was sollte das für ein Trauma sein – über vier Jahre unverändert?«
    Dr. Fröhlich wendet ein, daß es Fälle gebe, bei Soldaten, da …
    Dr. Schäfer: »Ja, bei Soldaten! Gewiß!«
    Pfleger P. berichtet mit einigem Enthusiasmus, A. habe heute ja und danke gesagt. Vielleicht sogar Mutti, aber da sei die Tür grade zugefallen, das könne
getäuscht haben. Nur ja und danke seien klar zu hören gewesen.
    Dr. Schäfer spielt das herunter. »Ach Gott. Manchmal klingt das so.
Aoah.« Er ahmt aus der Gurgel heraus ein Geräusch nach, das als Ja gedeutet werden könnte.
    »Und wenn sie sich verschlucken – onk  –« Er ahmt ein
Verschlukken nach, einen Klicklaut, der als danke gedeutet werden
könnte. »Machen wir uns mal lieber nichts vor!«
    A. stiert dem Ball hinterher. Geht auf den kleinen Streifen Wiese
zu, der unter einer der hohen Mauern liegt. Ein Vergißmeinnicht blüht. Es ist
Anfang Mai 1949. A. betrachtet das Vergißmeinnicht mit auffallender Sorgfalt.
    Dr. Fröhlich: »Hat er einen Namen?«
    Dr. Schäfer: »Alexander. Vielleicht.«
    Dr. Fröhlich ruft laut über den Hof: »Alexander!«
    A. reagiert nicht, bleibt über die Blume gebeugt. Dr. Fröhlich geht neben
ihm in die Hocke.
    »Na, was ist das? Weißt dus? Das ist schön, nicht? Schöön.«
    »Sss …«
    Dr. Fröhlich will ihm Blume vorsagen. »Blll …«
    A.: »Sss …«
    »uuume …« Dr. Fröhlich steht auf, klopft A. auf die Schulter,
wendet sich von ihm ab.
    Pfleger P.: »Soll ich ihn wieder reinbringen?«
    Dr. Schäfer: »Wird besser sein. Bevors ihm zuviel wird.«
    Dr. Fröhlich: »Der Fall interessiert mich. Überlassen Sie ihn mir?«
    Dr. Schäfer: »Na, wenn Sie wollen. Er beißt, Vorsicht.« Dr. Schäfer
flüstert dem Kollegen was ins Ohr.
    »Au …«
    Der Patient A. starrt immer noch auf die Blume. »Sss…«
    Pfleger P. nimmt A. unter die Arme, tätschelt ihn, will ihn zum Haus
führen.
    »ofie …«
    Pfleger P.: »Was?«
    A.: »Sss…«
    Pfleger P.: »Vergißßßßmeinnicht. So heißt das Blümchen.«
    A.: »Ssss…«
    Pfleger P.: »Na komm schon, junger Mann.«
    A.: »So…fie…«
    Pfleger P.: »Ja. Soviel auf einmal, was?«
    Er greift ihn unter, aber Patient A. schüttelt sich los. Krächzt.
Laut, noch lallend, aber bei gutem Willen verstehbar.
    A.: »Ich … möchte … bleiben …«
    Dr. Schäfer, Zeuge dieses Satzes geworden, äußert seine
Überraschung recht drastisch.
    »Meine Scheiße!«
    Dr. Fröhlich kann nicht umhin, seinen Kollegen zu triezen. »Trau
schau guck – Keine zehn Minuten mein Patient und schon quatscht er.«
    Dr. Schäfer quittiert die Bemerkung mit einem leisen Zischen durch
die geschlossenen Zähne.
    Patient A. spricht während der folgenden Wochen noch
ziemlich unsicher, muß erst wieder lernen, flüssig zu artikulieren. Dr.
Fröhlich kümmert sich von nun an täglich mehrere Stunden um den Fall,
schließlich nimmt er Alexander mit zu sich nach Hause, wo die Regeneration
enorm

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