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Eros

Eros

Titel: Eros Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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fortschreitet. Die verbliebenen Erinnerungen können bald chronologisch
geordnet werden. Und ständig werden es mehr.
    Der Pfleger Heinrich P. wird einige Jahre später vom
ehemaligen Patienten A. mit einer Villa beschenkt. Für Dr. Fröhlich beginnt
eine große Karriere. Aber noch ist es nicht soweit. Nach fünf Wochen sind er
und Alexander in einer Straßenbahn in München unterwegs. Dr. Fröhlich
unternimmt die Exkursion ausdrücklich auf eigene Verantwortung und Risiko. Der
Junge zeigt sich interessiert und wißbegierig. Manche seiner Fragen klingen
amüsant.
    »Ist der Führer wirklich tot?«
    »Soweit man weiß. Ja. Ich glaube schon. Gehen wir mal davon aus.«
    »Haben ihn … die Amerikaner … gegessen?«
    Dr. Fröhlich weiß nicht, was er antworten soll. Vielleicht ist der
Junge doch geistesgestört. Manches, was er erzählt, deutet darauf hin.
    Die beiden stehen auf überwachsenem Grund. Mittag. Im Juli
1949. Sie betrachten die Reste der ehemaligen Kiesauffahrt zum Eispalast. Vom
Gebäude sind verkohlte Außenmauern übrig, der Gartenpavillon ist nur noch am
Fundament zu erkennen, alles Holz wurde wohl verfeuert. Alex trägt alte, ihm
viel zu weite Kleidung, vom Doktor aus dessen Beständen geliehen.
    »Hier habt ihr gewohnt, sagst du?«
    Alex nickt.
    »Also nochmal. Deine Schwestern hießen?«
    »Coco.«
    »Wie denn? Beide?«
    Alex versucht sich zu konzentrieren, sagt zögernd ja, beinahe
entschuldigend, kann selbst nicht glauben, daß es so gewesen sein soll, setzt
ein verdrossenes Gesicht auf. Sie gehen einige Straßen weiter.
    »Und was war hier?«
    »Sofie …«
    »Sofie – wie weiter?«
    Alex kann sich nicht erinnern, seufzt.
    »Sie war vielleicht deine – Freundin?«
    »Nein … Wir hatten – Krankheit. Flecken …«
    »Hmm. Wo bist du denn zur Schule gegangen?«
    »Lehrer … kamen …«
    »Oh. Mmhmm. Nobel. Und du erinnerst dich nicht an … irgendwelche
Verwandte?«
    Alex denkt nach, dann entspannt sein Gesicht, er lächelt.
    »Tante … Sie war … Hihihi.«
    Dr. Fröhlich nickt vieldeutig und schreibt das so in sein Notizbuch. Patient macht
Geste: Zwei kreisende Finger über der Schläfe.
    »Sie glauben … ja?«
    Dr. Fröhlich möchte sich dahingehend nicht festlegen.
    »Naja. Dahinten wohnten mal die Brückens. Ein Alexander v. Brücken
gilt tatsächlich als vermißt. Das steht fest. Deswegen sind wir überhaupt nur
hier.«
    Sie gehen eine enge Straße entlang, vorbei an einer Zeile
zweistöckiger schmaler Häuschen mit wenigen und sehr kleinen Fenstern. Dr.
Fröhlich klingelt an der Tür, auf die Alexander mit der offenen Hand zeigt;
eine Frau um die Fünfzig öffnet. Er stellt sich ihr mit Titel und Namen vor.
    »Ja bitte?« Die Frau wischt ihre Finger an der schmutzigen Schürze
ab.
    »Hat hier vielleicht einmal ein Mädchen gewohnt mit Namen Sofie?«
    »Das weiß ich nicht. Was wollen Sie denn?«
    Alex führt plötzlich eine Art Tanz auf. »KURTZ !«
    »Was kurz?«
    »Sie hieß Kurtz! Sie … hatte Freundin bös …« Er schlägt sich vor die Stirn, der Name
fällt ihm aber nicht ein. »Freundin! Gans! Arsch!«
    Dr. Fröhlich bittet um Entschuldigung, der junge Mann sei leider
sehr aufgeregt. Die Frau um die Fünfzig schnaubt belästigt und schließt die
Tür.
    Vor den Fabrikanlagen wird Alexander ganz still, wirkt
stolz und bekommt leuchtende Augen. Es sind immer noch imposante Bauten.
    »Das alles hat euch gehört?«
    Alex nickt. »Unser! Meins!«
    »Aber niemand hier will dich wiedererkennen.«
    »Die Uhr!« Alexander zeigt auf seine Armbanduhr. Minütlich treffen
neue Erinnerungen ein.
    Irgendwas mit Käfer. Conni und Cosi. Hohenstein. Dürer. Fotos.
    »Vielleicht sollten wir warten, bis du dich an mehr erinnerst, und
kommen dann wieder?«
    »Keferloher!«
    »Wer ist das?«
    »Fische.« Alex kaut auf den Nägeln.
    »Was ist mit dir? Bist du aufgeregt?«
    »Ich … weiß! Keferloher! Da!«
    Sie betreten die Eingangshalle der Fabrik. Ein kahler
Bürotrakt mit ewig hoher Decke. Alles wirkt vertraut, ganz wie vor dem Krieg.
Die Empfangsdame in ihrem Glaskasten wundert sich über das seltsame Paar, den
angegrauten älteren Herrn mit seiner tonnenschweren Brille und den Jüngling in schlotternd
langen Hosen.
    »Verzeihung, mein Name ist Dr. Fröhlich. Wir möchten bitte Herrn …
Keferloher sprechen.«
    Die blondierte Empfangsdame wiegelt ab, da habe er Pech. Direktor
Keferloher sei in der Vorstandssitzung. Den könne heute niemand sprechen.
    Dr. Fröhlich senkt den

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