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Eros

Eros

Titel: Eros Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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unterspülten
Sandburg. Kälte. Der alte Mann zieht A. am Hemdkragen hoch. A. starrt hinaus aufs
Meer. Kälte. Noch mehr Kälte. Prasselnder Regen, hörbar auf der Haut. Gestank
gammliger Fischernetze, neben denen A. notdürftig zugedeckt schlafen muß. Der
alte Mann geht in die Hocke. Traum: Es ist Knut, der Vater. Kneift ihm in die
Backe. Steht auf, geht durch die Tür aufs Wasser zu, geht auf dem Wasser ab in
Richtung Horizont. Es blitzt. Die Blitze lila auf der Gischtkrone. Hütte innen.
Anderer Traum: Der Vater hockt auf einem Ballen Taue.
    Wo
warst du? Ich hab dich so vermißt . Im Schoß des Vaters, ganz
klein, liegt die Mutter. Wenn du wüßtest, wie gut’s uns jetzt geht. Du mußt essen .
Die Schwestern sitzen auf einer Kiste, in weißen leuchtenden Kleidchen. Machen
Gesten: Löffel zum Mund. (Iß!) Becher zum Mund (Trink!) Tag. Strand. Der
alte Mann und Alex sitzen im Sand. Er raucht eine Zigarette, gibt sie ihm.
Macht eine Geste, er soll daran ziehen. A. zieht, hustet. Zwei immer
wiederholte Sätze, die er nur hört, wenn der Alte sie ihm ins Gesicht schreit.
    Nonseidelluogo.
Du bist nicht von hier. Und nonmipuoiesserutile. Ich hab keine
Verwendung für dich. Abenddämmerung. Geruch von Grillfleisch.
Frauenlachen. Schwarzer Mann reicht kleines Fleischstück. A. lächelt. Der beste
Bissen seines Lebens. Die GIs lachen. A. rennt weg. Eine spätere Erinnerung: GI
mit Violine, tanzt und spielt. A. kann es nicht hören, aber er spürt
Vibrationen in der Luft. Der GI geht nah zu Alex hin, hält ihm den Korpus der
Violine ans Ohr. So hört A. die Musik: ein fernes, tiefes Brummen, das
Gänsehaut verursacht, aber als schön empfunden wird.
    Heftig: Das Licht der Schreibtischlampe in der Kommandantur,
dahinter sitzt ein Carabiniere.
    Komische Kopfbedeckung. Riesiger Schnauzbart, schwarzglänzend.
    Carabiniere: »Und?« Er sagt’s nicht laut, die dazu passende Geste
genügt, der Fall ist ihm lästig, so viele Jungs irren umher, und dieser ist
noch nichtmal sehr jung.
    Der alte Mann, nachdem er endlich festgestellt hat, daß
der Junge wirklich zu nichts zu gebrauchen ist: »Er ist zu nichts zu
gebrauchen. Ein taubstummer Junge.«
    »Kann er seinen Namen schreiben?«
    »Wie soll ich das wissen? Ich kann nicht lesen …«
    Ein gemutmaßter Dialog. Der Carabiniere rüttelt A., drückt ihm
Papier und Stift in die Hand. Scrivi il tuo nome! Schreib! Schreib deinen
Namen!
    A. reagiert nicht. Er zittert, weil der Flieger gerade zum
tausendsten Mal absackt. Etwa zweimal am Tag diese kurzen Anfälle, gefolgt von
etwa einer halben Minute Ohnmacht. Der Carabiniere zieht A. die Armbanduhr ab.
Hält sie ins Licht der Lampe.
    In den Boden der Uhr eingraviert ist: Von seinem Vater für Alexander.
    »C’e tedesco.«
    Der alte Mann: »Er ist jetzt seit Monaten bei mir. Ich bin ein armer
Mann. Er ist zu nichts gut.«
    Keine weiteren Erinnerungen an den alten Mann, auch nicht an einen
Abschied. Dafür ein toter Kormoran ohne Augen in der Bucht. Aber wann?
    Erinnerung an gelb-rot-rosastichige Berge. Ein einziges
Bild. Alpen im Morgenrot? Wann? Ein Lastwagen. A. mit heftiger Angst, da ihn
das Innere des Lastwagens an den Flieger erinnert. Nächste Erinnerung: Am
Eingang eines großen, turnhallengroßen Raumes. Der Schlafsaal eines
katholischen Waisenerziehungsheims nahe Bad Reichenhall. AvB wird es später
kaufen und niederreißen lassen.
    In den Betten – Dreigeschoss-Stockbetten – Jugendliche jeden Alters.
A. wird in den Saal hineingeführt – von wem? Weiß er nicht. Bekommt ein leeres
Bett zugewiesen. Erinnerung an das große Glück, in diesem Bett einzuschlafen.
    Erinnerung an einen Frühstücksraum. Die Kinder machen viel Lärm, A.
hört nichts davon. Seine Taubheit muß außertraumatische, organische Gründe haben.
Eiter in den Ohren. Es hilft für kurze Zeit, ihn mit der Spitze des kleinen
Fingers herauszupressen, tut dann unendlich weh. Verletzungen im Innenohr,
nicht erkannt, lange nicht behandelt. A. am Tisch, vor sich Tee und Zwieback.
Sein Tischnachbar nimmt ihm den Zwieback weg. Alex zeigt Reaktion. Schreit wie
am Spieß. Ein erster Laut vom angeblich stummen Kind. Der Tischnachbar legt ihm
den Zwieback wieder hin. Alle starren ihn an.
    Später. Wann? Medizinisches Untersuchungszimmer. Der Arzt beugt sich
über A., hört ihn mit dem Stethoskop ab. Läßt A. durch das Stethoskop seinen
eigenen Herzschlag hören. Aber A., in der Angst, sich durch diesen fernen,
fernen Herzschlag zu verraten, reagiert nicht.
    Zettel:

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