Eros
Sekt haben bitte? Wie groß du
geworden bist!« Tante Hilde streckt Alexander die knochigen Hände hin, er
berührt sie nur kurz, ihn ekelt vor den vielen Hautflecken.
Keferloher weiß nicht, wie er reagieren, welche Strategie er
einschlagen soll. Ringt mit sich. Tante Hilde bekommt ein Gläschen Sekt
gebracht, ganz lustig ist sie und fragt ihren Neffen, ob er seine Schwesterchen
mitgebracht habe.
»Nein, Tante Hihi. Die sind doch tot, die Cocos.«
»Hihihihi.«
Alex wendet sich an Lukian, reicht ihm steif die Hand über den
Tisch.
Das war ein wichtiger Moment. Mit vielen Konsequenzen.
Eine Weile geschah nichts, überhaupt nichts. In Lukian rumorte es, er erhob
sich zwar, aber er überlegte, der Blick seines Vaters von der Seite her ließ
ihn schwitzen. Und dann … dann sah er mir in die Augen und nahm meine Hand, er
entschied über mein und auch sein ganzes kommendes Leben, ja, in dieser Sekunde entschied er sich für mich und gegen seinen Vater. Wer weiß, wie sonst alles gekommen wäre.
»Das ist er … tatsächlich. Das ist Alexander!«
Vater Keferloher schwenkte den Kopf wütend hin und her, gab aber
keinen Kommentar ab. Ihm schien klar zu werden, daß man mich nicht so einfach
würde ignorieren können, daß es in jedem Fall Untersuchungen geben würde.
Immer neue Erinnerungen strömten in mich zurück, jetzt wo ich diese
Gesichter wiedersah. Es glich einer zweiten Geburt. Wie man aus einem Ei
hervorbricht und Licht sieht. Und selbst die Sprache kam zurück, in jedem
Moment tausend Worte mehr.
»Wie geht es dir, Luki?« Von meinem Gefühl her waren nur ein paar
Monate vergangen. Und ich wendete mich freundlich an den alten Keferloher.
»Fische gehn nicht unter …«
Das haute ihn um. Keferloher, verwirrt, entsetzt, starrte mich an.
Bis zu diesem Zitat hatte er wohl noch darauf gehofft, ich sei ein Schwindler,
den man mit der Zeit entlarven könne.
»Alexander?«
In seinen Augen lag etwas zwischen Unglauben und Angst.
»Das Flugzeug …« sagte ich, und er dachte wohl, ich wolle damit
etwas andeuten. Falsch. Zu jenem Zeitpunkt fiel mir wirklich nur ein, daß da
irgendwas mit einem Flugzeug war, und erst einige Sekunden später fügten sich
zum Wort Flugzeug andere Wörter, bildeten eine Kette, eine Geschichte.
»Mein Gott.« Keferloher stand auf, bleich, kam schnell auf mich zu,
umarmte mich fest, als wolle er so meine Erinnerung abwürgen. »Jesus. Alex!
Alexander! Das war nicht mehr zu erwarten, nein. Nicht zu erwarten.«
»Hiihiihi …«
Die restlichen Vorstandsmitglieder begannen zu klatschen, bravo zu rufen. Es tat mir, wie alles, was laut war, in den Ohren weh, ich bat darum,
aufzuhören, doch sie klatschten und brüllten weiter, sichtlich bewegt. Ich
packte Dr. Fröhlichs Hand, er stimmte dem Vorschlag Keferlohers zu, mich
erstmal in einem wirklich guten Krankenhaus betreuen zu lassen, vor allem auch
psychologisch. Fröhlich fürchtete einen Rückfall durch Reizüberflutung. Er gab
mir sein Versprechen, währenddessen auf mich aufzupassen, er hat es nie
gebrochen. Ihm, diesem guten, guten Menschen, habe ich viel zu verdanken,
soviel. In der HNO-Abteilung des Schwabinger Krankenhauses wurde ich behandelt,
die Presse war benachrichtigt worden und gierte nach Informationen, nach
Details. Der verlorene Sohn, zurückgekehrt aus der inneren Wüste, eine tolle
Story. Meine Identität wurde mit Hilfe des Archivs unseres ehemaligen
Familienzahnarztes zweifelsfrei festgestellt. Dank neuartiger Medikamente aus
den Staaten, die man für teuer Geld über die Schweiz bezog, heilte mein Kopf
binnen weniger Wochen. Nun, es gibt böse Zungen, die behaupten, ich sei nie
ganz geheilt worden, das mag schon sein, aber ich konnte mich bald wieder an
alles erinnern, an beinahe alles.
»Meinen Sie die Zeit vor dem Flugzeugabsturz
oder auch danach?«
»Es war eine mißglückte Notlandung. Obwohl ja nicht völlig
mißglückt.«
»Von mir aus. Sie haben mir diese Mappe mit den Notizen aufs Zimmer
legen lassen. Aber – ich hätte da noch einige Fragen. Wie soll ich soviele
Jahre füllen mit fünf oder sechs Seiten wirrem Zeug? Wer waren die anderen
Passagiere im Flieger? Was ist aus denen geworden? Waren Sie der einzige
Überlebende? Dieser alte Mann, war das wirklich ein Fischer? Es klingt so,
naja, nach, ich weiß nicht, Ozeanromantik. Ja, beinahe unglaubhaft. Und Ihre
Zeit im Heim! Die Folter! Die versuchte Vergewaltigung. Das ist doch wichtig.
Daraus könnte ich einiges machen. Aber darüber sagen Sie
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