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Eros

Eros

Titel: Eros Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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Tag
geredet und nun keine Lust mehr, den Mund aufzumachen, außer um wenige Bissen
zu essen, oder wenn ihm ein Detail einfiel, das ich sogleich notieren mußte.
Wirklich nur unwesentliche Details, für die auf jedem Tisch Zettel bereitlagen.
Er sah mich manchmal an, als wolle er ergründen, inwieweit seine Erzählung mich
beeindruckt hätte, ob ich das alles zu glauben bereit war. Vielleicht war, was
er mir erzählte, bereits eine geschönte Version, bereichert um einige
spektakuläre Wendungen. Bitte sehr, das hielt ich für möglich, sogar für
wahrscheinlich, und es war mir egal. Nach seinem Tod würde ich, was ich für
nötig hielt, weglassen, damit es nicht erfunden klang. Vielleicht habe ich zu
laut gedacht, vielleicht las er genau diesen Gedanken meinen Augen ab. Er
wirkte prompt verletzt, ohne die Sache anzusprechen, nickte nur kurz und
entfernte sich. Nach einigen Runden im Schwimmbad und drei doppelten Single
Malt ging ich, eskortiert von einem Diener, auf mein Zimmer. In dieser Nacht
schlief ich unruhig. Gegen zwei Uhr morgens hörte ich etwas brummen, einen
Kleinlaster oder etwas ähnliches die beleuchtete Auffahrt herantuckern, das
Motorengeräusch kam näher, drosselte sich, die Reifen rutschten ein wenig im
Schnee. Ich war an sich zu müde, um aufzustehen, stand dennoch auf und
vergewisserte mich, daß man von meinen Fenstern aus nichts erkennen konnte.
Weswegen war ich hier? Warum ließ mein Auftraggeber nicht einfach abtippen, was
er erzählte, wozu benötigte er noch mich? Nur um den Sätzen ein wenig Feinschliff zu geben?
Nur, damit die Geschichte einen anderen Autor als ihn selbst besaß, einen
Strohmann, sozusagen?
    Tags darauf, als von Brücken seine Geschichte fortsetzte, glaubte
ich, zu begreifen.
    Er wollte durch mich fünf verlorene Jahre zurückbekommen. Aus den
wenigen Fetzen und Fragmenten, die er aus jener verlorengegangenen Zeit noch
hervorzukratzen imstande war, sollte ich ihm einen Teppich knüpfen. Eine aus
Seilen geknüpfte Treppe, auf der er endlich und mit Würde über jene Lücke,
jenen Abgrund hinwegschreiten durfte, als Sieger über Chaos und Finsternis, mit
festem oder zumindest fest erfundenem Boden unter sich. Ob er das je lesen
würde, war ihm schnurz, für ihn existierte anscheinend nur, was irgendwann
geschrieben stand. Sogar rück- und vorauswirkend. (»Was geschrieben steht, ist
auf gewisse Art geschehen …«) Es dauerte, bis ich sein Denken verinnerlichen
konnte, noch länger, bis ich Gefallen daran fand.

Zweiter Tag
    Chaos
    Materialsammlung. Ich-Perspektive ist AvB nicht möglich.
Einige oft wiederkehrende Träume. Abrufbar sind nur wenige eingebrannte Bilder,
manche real, andere wohl Rückstände der Traumata. Manches ergibt sich aus
lieblos geführten Kranken- oder Polizeiakten, meist nur Namen, Orte,
Transporte, Medikationen, selbst davon nicht viel. Wo genau das Flugzeug
notlandete, ob es weitere Überlebende gab, wurde nie geklärt. Irgendwo nahe der
Küste, vermutlich oberhalb des Po-Deltas. Dort eine Hütte. Der ominöse alte
Mann. Manches kam später durch Hypnose wieder zum Vorschein, von der ersten
Zeit aber fast nichts. Der alte Mann redet auf A. ein. Dieser versteht ihn
nicht. Nicht, weil er kein Italienisch beherrscht. Das ohnehin nicht. Sondern
weil A. taub ist, stocktaub. Und stumm, verstummt durch den schweren Schock. Es
vergehen Wochen, wenn nicht Monate bei dem alten Fischer an der Küste. Brot,
Wasser, Fisch. Zustand schwerster Apathie, traumatischer Stupor, vermutlich
durch ungeeignete, vitaminarme Ernährung verstärkt. Rauschen, das Rauschen der
anbrandenden Gischt als Mantra. Obgleich taub, konnte A. das Rauschen
empfinden, nicht als Geräusch, jedoch als leichten Tanz (sic!) auf der Haut der
Schultern und Oberarme.
    Wer der alte Fischer war (einmal Ohrfeige, sonst gutmütig), konnte
trotz intensiver Nachforschungen nie festgestellt werden. Flüchtig die
Erinnerung an schwarze GIs beim Barbecue am Strand. (Warum keine weißen?) Ein
Freiluftkino für die Truppen. Italienische Kinder, die in den Zäunen hängend
zusehen. A. sieht es nur von fern, als seltsames nächtliches Lichtspiel im
wahrsten Sinne des Wortes, wenn es im Meer schwach reflektiert.
    Eine Schaufel. A. unterhält eine intensive, beinahe intime Beziehung
zu einer Schaufel. Nimmt die Schaufel, geht an den Strand, beginnt ein Loch zu
graben. Momente bewußten Schaffens. Schrekkensbilder: Ausgehobene Löcher füllen
sich mit Wasser. Tragödie jedes Kleinkinds – der Untergang der

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