Eros
Taub seit Geburt?
A. reagiert nicht. Man hat diese Uhr bei dir gefunden. Heißt du Alexander?
Der Arzt schreibt wieder etwas auf einen Zettel. Keine Reaktion
seitens A. Die Eiterherde werden notdürftig behandelt. Es reicht, um eine
kleine, ganz allmähliche Besserung einzuleiten. Die geplatzten Trommelfelle heilen,
das chronisch entzündete, beinahe zerstörte Innenohr regeneriert sich,
allerdings dauert es Jahre. Auf dem linken Ohr erhält A. nie mehr seine
komplette Hörfähigkeit zurück. Dennoch werden rein psychische Krankheitsbilder
vermutet.
Der Arzt, ein simpler Allgemeinarzt, bereits in Rente gewesen, nun,
da es an Personal fehlt, reaktiviert, weiß nicht, was er unter der Rubrik
›Geisteszustand‹ eintragen soll. Entscheidet sich für schwachsinnig .
In seinem Zustand ist A. wehrloses Opfer unter Jugendlichen, die
derbe Späße mit ihm treiben, bis hin zur versuchten Vergewaltigung. Das
Heimprotokoll vom Oktober 1946 erwähnt die Wegschließung A.s wegen eines
außerordentlichen Gewaltausbruches. Er hat, heißt es, einem Achtzehnjährigen
ins Genital gebissen, büßte mit drei gebrochenen Rippen und Schädelprellungen
dafür.
Passende Erinnerung: Schlafsaal. Nacht. Drei ältere Jungs sehen ihn
an, beugen sich über sein Bett, einer kniet auf A.s Brustkorb. A. schreit. Sie
stürzen sich auf ihn, halten ihm den Mund zu. Dann die Nase, damit er den Mund
wieder öffnet. Ein wilder Schrei aus weiter Ferne, einer der Jungs brüllt vor
Schmerz.
»Der hat gebissen, die Sau!« An diesen sehr lauten Satz kann A. sich
deutlich und mit gewisser Genugtuung erinnern. Man bringt ihn in derselben Nacht
in einer Besenkammer unter. Behandelt ihn wie einen bösartigen oder tollwütigen
Hund. Erinnerung an den Geschmack von Blut. Nach zwei Tagen und Nächten in der
Besenkammer, bei Eiseskälte und ohne warme Mahlzeit, wird A. in die
Nervenheilanstalt xxxxxxx (Name soll nicht genannt werden) überstellt,
vorgeblich zu seinem eigenen Schutz. (Soll ich einen Namen erfinden? Nein.)
Erinnerung: Eine Krankenschwester fragt nach A.s Namen. Der Aufseher
des Erziehungsheims antwortet für den neuen Patienten, er heiße vielleicht
Alexander. Gewiß sei das nicht.
»Persönliche Gegenstände? Wertsachen?«
»Keine.«
A. beginnt zu weinen, zu schreien, der Aufseher zögert, läßt sich
erweichen, kramt etwas aus der Hosentasche.
»Armbanduhr.«
»Irgendwas sonst?«
»Na, er beißt.«
»Gilt für fast alle hier.«
Danach lange keine neue Erinnerung. Behandlung laut Krankenakte mit
mittelschweren Sedativen. Im Tagesprotokoll vom 11. August 47 wird ein Vorfall
erwähnt, demzufolge Plastikbesteck aus Restbeständen der U.S.-Armee angeliefert
und bei suizidgefährdeten oder gewaltbereiten Patienten erstmals zum Einsatz
gekommen sei. A. habe seine Mahlzeit aufgegessen und danach die Plastikgabel
zerbissen, habe die Zinken verschluckt und hätte sicher auch den Rest des
Bestecks verspeist, wäre man nicht eingeschritten. Patient A. habe daraufhin
wieder Metallbesteck, aber nur Löffel, bekommen. An jenen Vorfall erinnert sich
A. selbst aber nicht, wiewohl sein Gedächtnis langsam wieder längere Sequenzen
zu speichern beginnt und immer neue, noch unzusammenhängende Bilder der
Vergangenheit zurückkehren, leider wirr, ohne chronologische Ordnung. Dies
behält A. strikt für sich, teilt sich niemandem mit, reagiert auf Befragungen
apathisch bis widerwillig, stößt Knurrlaute aus. Bis er im Laufe zweier Jahre Vertrauen
zum noch recht jungen, in der Ausbildung befindlichen Hilfspfleger Heinrich P.
fasst, welcher ihn relativ anständig behandelt und ihn immer wieder zur
Kommunikation auffordert. Von da an ist das weitere Schicksal des Patienten A.
durch Aussagen der beteiligten Fachkräfte relativ präzise rekonstruierbar.
Laut Aussage von Heinrich P. sei eine Praline bzw. ein einziges
Wort der Auslöser für das außerordentliche Interesse des Dr. Fröhlich (Name
geändert) am Patienten A. gewesen. Als Heinrich P. eines Morgens die Zelle des
Patienten betreten und das Frühstückstablett zur Reinigung an sich genommen
habe, wünschte er wie üblich einen schönen Tag, legte die Praline (Geschenk der
Verlobten) dem Kranken aufs Bett, er selber mochte keine Marzipanpralinen. Danach,
beim Verschließen der Tür, habe Patient A. Danke, Mutti gesagt.
Im Hof der psychiatrischen Anstalt sei (laut Erinnerung des Heinrich
P.) an diesem Tag von der Ärzteschaft das kommende Grundgesetz diskutiert
worden, während fortgeschrittene
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