Eros
Original liest, zwar abstoßend, doch
interessant. Sofie selbst hat ihre Defloration nie bewußt hinausgezögert und
weigert sich, der Sache viel Bedeutung zuzumessen. Birgits Sticheleien waren
lästig gewesen, ansonsten irrelevant.
In der Auslage eines Radiogeschäftes steht ein Fernseher, darin zu
sehen ist die Krönung Elizabeths der Zweiten. Die beiden Frauen mischen sich
unter die Zuschauertraube. Spotten über die ringsumher hingeseufzte
Anteilnahme.
»Schau dir die Leute an. Submisses Volk. Alles Monarchisten. Außer
den Nazis natürlich.«
»Ich hab mich entschlossen. Ich werde die Stellung kündigen.«
»Was? Jetzt, wo du den Abschluß gemacht hast? Bist du nicht ganz
dicht?«
»Ich geh auf die Abendschule. Machs Abi nach. Und dann studier ich.
«
»Ach! Und wovon lebst du?«
»Wenns sein muß, putz ich eben.«
»Bist du sicher? Hast du dazu die Kraft?«
»Wenn nicht, häng ich mich einfach auf.«
Birgit nimmt die Stiefschwester in den Arm, solche Töne von ihr
nicht gewöhnt.
»Ich frag mal meine Eltern – unsre Eltern. Vielleicht schießen sie
was zu.«
»Möcht ich nicht. Danke.«
Elizabeth die Zweite empfängt die Krone des Commonwealth.
In jenem Sommer kommt, mit vierzehn Jahren Verspätung, Gone With The Wind in die deutschen Kinos, und Sofie sieht sich den Film dreimal an, heult Rotz
und Tränen, Scarlet wird ihr neuer Spitzname. Dabei identifiziert sie sich viel eher mit Rhett
Butler.
Im Verkaterten Stiefel . Rolfs Combo spielt. Zum letzten Mal.
Die letzte Zugabe. Rolf hat beschlossen, das Musizieren Talentierteren zu
überlassen. Dabei fehlt es ihm ja nicht an Talent. Nur an Mut. Er will sich
künftig auf das Wesentliche konzentrieren. Das Wesentliche ist für ihn das
Sichere. Unter den Zuschauern sitzen Sofie und Birgit. Applaudieren. Die
Bandmitglieder verlassen die kleine Bühne. Rolf, etwas depressiv, setzt sich
neben Sofie, küßt sie. Birgit nimmt es hin, ohne Reaktion. Die KPD ist
bedeutungslos geworden, die Systeme sind erstarrt. Der Volksaufstand in der DDR
führt zu einem heftigen Streit zwischen Birgit und Sofie. Erstere findet, das
sei gar kein Volksaufstand gewesen, nur ein Bündel konzertierter Aktionen
eingeschleuster Saboteure. Sofie will sich nicht mehr vorschreiben lassen, was
sie zu denken hat. Weder von Birgit noch sonstwem.
Sie entwickelt sich. Wird ihre Ausbilderin eine ekelhafte
Menschenschinderin und Nazischnepfe nennen, wird ihr eine Tasse 57 Grad Celsius
heißen Tee ins Gesicht schütten, was für die sogenannte Nazischnepfe gesundheitlich folgenlos bleibt. Das Getränk kühlt sich während des Fluges um
entscheidende fünf (!) Grad ab. Die Nazischnepfe verzichtet mangels sichtbarer Wunden auf
eine Anzeige und beläßt es bei der fristlosen Entlassung. Sofie wird, wie sie
es angekündigt hat, putzen gehen. Wird die Abendschule besuchen. Ihre
Adoptiveltern schießen etwas Geld zu, ebenso Rolf, der sein Studium mit
Bestnote abschließt und fortan lehrt, was er selbst gelernt hat, nämlich
Orgelbau, ein Beruf, vorläufig mit Zukunft, so viele zerbombte Kirchen werden
neu aufgebaut und mit Musik munitioniert. Jeder hat zu tun. Rolf und Sofie
leben einige Jahre ganz glücklich zusammen, beide zu beschäftigt, um daran
zweifeln zu können.
Sofie entscheidet sich 1956 für eine Kurzhaarfrisur, was bedeutet,
ihr Haar endet nun auf Höhe der Schultern. Apropos Schultern. Über dem Bett,
neben dem Lenin, hängt nun James Dean mit Gewehr auf den Schultern, das ist
Rolf auch nicht so recht. Er verdächtigt Sofie, beim Sex an James Dean zu
denken. Andererseits scheint ihm das gesünder, als würde sie beim Sex an Lenin
denken. Außerdem stellt Jimmy keine Gefahr mehr da, er ist schon wieder tot.
Politisch rückt das Land nach rechts, sagen die einen,
zurück in die Normalität, sagen die anderen. Es kommt zur kaum für möglich
gehaltenen Wiederbewaffnung. Sofies Proteste nutzen nichts. Mitte 1956
beschließt der Bundestag die allgemeine Wehrpflicht. Birgit hat es immer
prophezeit. Und sie erwähnt das auch später noch oft, bei jeder sich bietenden
Gelegenheit.
Sofie arbeitet an einer Supermarktkasse. Supermarkt ist ein neues
Wort. Sogenannte Halbstarke und Pettycoats beherrschen zunehmend das Straßenbild. Sofie wird das Abschlußzeugnis der
Abendschule überreicht. Durchschnittsnote 1,8. Daß Sofie ihr Abitur auf dem
zweiten Bildungsweg so problemlos schafft, macht Rolf ziemlich stolz, er hätte
sie nicht für so klug gehalten. Auf die Idee, es seien hier
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