Eros
unbekannte
Einflüsse am Wirken gewesen, kommt er nicht, kommt niemand. Was Sofies Leistung
nicht herabwürdigen soll.
Juli 56
Sofie ist 25 Jahre alt, hat ein hervorragendes Abitur und
einen treuen, etwas langweiligen Freund. Zum letzten Mal kehrt sie mit ihrer
alten Schultasche nach Hause zurück. Birgit hat ihr zum Geburtstag eine
schweinslederne Mappe mit Schloß gekauft, die sie künftig verwenden wird.
Während Sofie die Tür zu ihrer Wohnung entriegelt, tritt aus der
gegenüberliegenden Wohnung ein junger Mann, mit dünnem, dunkelblondem Haar,
einem schmalen Gesicht. Sie hat ihn schon öfter mal gesehen, er scheint da
drüben ein recht ruhiges Leben zu führen. Wahrscheinlich ein Student – und eine
stolze Studentin wird auch sie bald sein. Also muß sie den kommenden
Kommilitonen doch kennenlernen, obwohl er blaß und käsig dreinsieht und scheu
jeden Blickkontakt zu vermeiden sucht.
»Guten Abend!« ruft sie laut über den Flur.
»Guten Abend«, erwidert leise der Mensch und will an ihr
vorbeischleichen. Das geht so nicht.
»Ich hab Abitur!«
»Oh. Gratuliere!« Der Käsemensch, korrekt krawattiert, bleibt
stehen, dreht sich um, hebt die Mütze. Wie kann man nur so eine gräßliche Mütze
tragen, wenn man kein Franzose ist?
»Danke. Ich könnte heut die ganze Welt umarmen. Wir haben uns nie
vorgestellt. Ich heiße Sofie.«
»Lukian.« Sie geben sich die Hand.
»Ich hätte sowieso noch bei Ihnen geklingelt.«
»Warum?« Der Käsemensch klammert sich an seine Aktentasche.
»Wird vielleicht ’n bißchen laut. Wir feiern nämlich heut nacht.«
»Verständlich. Bitte sehr. Keine falsche Rücksichtnahme.«
»Schau ruhig vorbei, aufn Bier. Verzeihung. Störts, wenn ich duze?«
»Nein, klar.« Der Mensch überlegt, zerrt dabei weiter an seiner
Aktentasche, lächelt unvermutet. »Ich komm vielleicht vorbei. Gerne.«
»Bis später!« Sehr aufgedreht stolpert Sofie in ihre Wohnung, reißt
alle Fenster auf, tanzt zu Swingmusik aus dem Radio. Jetzt hat sie den
Käsemenschen gar nicht gefragt, was er so macht.
Lukian meldet, es habe eine Begegnung stattgefunden.
Er sei eingeladen worden. Wie er sich verhalten solle?
Erste Antwort: Dezent . Zweite Antwort, zehn Minuten nach der ersten
Antwort: So, wie er es für richtig halte. So, wie es am natürlichsten aussehe.
Er habe Carte
Blanche .
Abends also Abifeier. In dem Dreißigquadratmeterzimmer
sitzen Rolf, Sofie, Birgit, Birgits neuer Liebhaber, die Mitglieder von Rolfs
ehemaliger Combo, fünf von Sofies Mitabiturienten, ihr Mathelehrer, dazu einige
von Sofies sonstigen Bekannten. Es gibt kaum eine Tanzfläche, dafür Bier vom
Faß in der Badewanne. Und laute Jazzmusik aus dem Radio. Solche, die nur darauf
wartet, Rock’n’Roll genannt zu werden. Für das Bier hat jeder Gast ein Glas
mitbringen müssen. Die Diskussionen gleiten dank Birgit, die sich nach dem
zweiten Staatsexamen Anwältin nennen darf, schnell ins Politische ab.
»Und? Was ist passiert? Wir haben Wehrpflicht. Wollteste ja nie
glauben.«
»War doch klar. Wir sind Puffermaterial. Wiederbewaffnetes
Kanonenfutter, wenn die Roten kommen.« Rolf tut gerade so, als habe er alles
vorausgesehen, bringt Birgit damit auf die Palme. Wie nicht anders intendiert.
»Du unterstellst der Sowjetunion allen Ernstes aggressive
Absichten?«
Rolf fühlt sich, von einem Moment auf den anderen, isoliert und
gebrandmarkt. Ausgegrenzt, als habe man ihn seiner Jugendlichkeit beraubt. »Ihr
werdet euch noch umgucken«, sagt er leise, um bloß nicht zuviel zu sagen und
doch vor sich selbst noch Haltung zu zeigen.
Drei Monate später, als der Volksaufstand in Ungarn von russischen
Panzern niedergewalzt wird, entflammt die Debatte neu, heute hingegen endet sie
sehr abrupt mit Birgits Ausruf: »Mann, bin ich froh, dich los zu sein! Du bist
ja ekelhaft!«
»Hallo! Das ist meine Feier, klar, Frau Anwältin?« Sofie versucht sich an
einem Machtwort, erfolglos. Birgit besteht auf der geistigen Hoheit.
»Chruschtschow ist nur ne klebrige Masse ohne Rückgrat. Stalin hatte Fehler,
gut, aber über einen Chruschtschow hätte Hitler nur gelacht!«
»Stalin war ein Monster«, behauptet der bekennende Katholik Rolf.
»Sozialismus, ja gern – aber auf christlicher Basis!«
»Du – Orgelbauer! «
Es klingt plötzlich wie ein fieses Schimpfwort.
Der Klarinettist aus Rolfs Combo, schon betrunken, lallt: »Wo Hobel
fallen … sind Späne.« Aber alle wissen, was gemeint ist.
»Wenn du kotzen mußt, im Bad!«, rät ihm
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