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wieder blinzelte Iwanow und blickte sich mit einem überraschten, beinahe kindlichen Ausdruck um, als wäre ein geistig gesunder Teil seines Verstandes erwacht, hätte die Kontrolle über den Körper zurückgewonnen und sich in einer Zwangslage wiedergefunden, die ihm, während er geschlafen hatte, der völlig verrückt gewordene Teil von Iwanow eingebrockt hatte.
Andererseits verdankte Sokolow sein Leben – sein Überleben in Afghanistan, in Tschetschenien – seiner Fähigkeit, Dinge durch die Augen des Gegners zu sehen, was in diesem Fall den Versuch bedeutete, sich in Iwanow hineinzuversetzen. Dieser Perspektivenwechsel war nicht immer leicht. Ein paar Tage lang musste man immer wieder daran arbeiten, den anderen beobachten, Daten sammeln, sogar kleine Experimente durchführen, um zu sehen, wie der andere auf Dinge reagierte. Seine Leute in Tschetschenien hatten ihn, Sokolow, für verrückt gehalten, weil er manchmal Maßnahmen ergriffen hatte, deren taktischer Sinn nicht gerade auf der Hand lag, nur um eine Hypothese darüber zu be- oder widerlegen, was die Tschetschenen dachten, was sie wollten, wovor sie sich am meisten fürchteten.
Was sie für normal hielten.
Das war immer der schwierige Teil. Wenn man wusste, was für den Feind normal war, wurde alles einfach: Man konnte ihn in den Schlaf lullen, indem man ihn mit normal fütterte, und ihm einen gehörigen Schrecken einjagen, indem man ihm plötzlich normal wegnahm. Allerdings war für Afghanen und Tschetschenen normal so verschieden von dem, was normal für Russen war, dass es für einen Mann wie Sokolow ein ganzes Stück Arbeit bedeutete herauszubekommen, was es war.
Auf die gegenwärtige Situation bezogen lautete die Frage: Konnte es als normal betrachtet werden, wenn jemand aus dem Obschtschak -Fonds ziemlich große Beträge auf die Seite schaffte, mit denen er einen Privatjet von Toronto nach Seattle und von dort nach Xiamen charterte, um jemanden – vermutlich ein Kind – ausfindig zu machen und zu liquidieren, der einen Virus geschrieben und für dreiundsiebzig Dollar ein paar Dateien in Geiselhaft genommen hatte?
Bis Sokolow an diesem Morgen in dem sicheren Haus erwachte und den Kaffee buchstäblich roch – die Tagesschicht war nämlich um sechs Uhr Ortszeit aufgestanden und hatte angefangen, ihn auf dem Campingkocher aufzubrühen –, war ihm nicht klar gewesen, in welcher Riesenscheiße er steckte, wie interessant die Situation geworden war. Und dann verspürte er ebenso viel Verwunderung wie Scham darüber, dass er sich derart von den Ereignissen hatte überrollen lassen. Iwanow hatte ihn im Normalspiel geschlagen. In ein Flugzeug steigen und irgendwohin fliegen, um einen Job zu erledigen: Was konnte es Normaleres geben? Nur hatte Iwanow ihm nicht mitgeteilt, wie sie tatsächlich ins Land kommen würden. Nun hatten einige der Männer, die formal Sokolow unterstanden, in den Vereinigten Staaten einen Mord begangen, andere hielten sich illegal in China auf und waren einheimischen Gangstern oder Funktionären ausgeliefert, mit denen Iwanow eine Vereinbarung getroffen hatte.
Allerdings musste man fairerweise sagen, dass diese Leute ebenso Iwanow ausgeliefert waren, weil sie nicht begriffen, dass Iwanow verrückt war. Und wenn sie erst einmal verstanden hatten, dass dieser Mann nicht nur verrückt, sondern auch noch in Gesellschaft von sieben Kämpfern und drei Hackern unterwegs war, würden sie Albträume wegen all der Konsequenzen bekommen, die sie erwarteten, wenn diese Leute wirklich anfingen, ihrer gewohnten Tätigkeit nachzugehen.
Was für einen Schwachsinn hatte Iwanow ihnen wohl erzählt? Wahrscheinlich, dass er über das Privatjetterminal hochwertige Güter ins Land schmuggeln wollte. Zwei Lieferwagenladungen mit Zeug. Schwarzmarktkaviar oder sonst etwas, das teuer genug war, um das Anmieten eines Privatjets zu rechtfertigen.
Nein. Prostituierte. Hochwertige Spezialprostituierte. Das war’s, was er ihnen erzählt haben musste.
An einer Wand des Büros, in dem Sokolow schlief, hing eine Weißwandtafel, und er wäre gerne aufgestanden, um ein Diagramm der Situation aufzuzeichnen. Es wäre ziemlich kompliziert geworden. Zum Glück gab es gar keine Marker; Diagramme aufzumalen war vermutlich keine schlaue Idee. Er musste alles im Kopf haben. So lag er da, den Kaffeeduft in der Nase, und starrte an die Deckenplatten. Es gab neun davon, ein Drei-mal-drei-Raster, das den größten Teil der Decke ausmachte. Sich selbst siedelte er in
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